Wirtschaftliche Herausforderungen im Euroraum während der grünen und digitalen Transformation - Rede von Rolf Strauch
Rolf Strauch, ESM Chef Ökonom
„Wirtschaftliche Herausforderungen im Euroraum während der grünen und digitalen Transformation“
Handelsblatt Retail Banking Summit
Frankfurt am Main, 5. Juli 2022
(Es gilt das gesprochene Wort)
Guten Morgen,
ich freue mich, den Handelsblatt Retail Banking Summit zu eröffnen.
Lassen Sie uns gemeinsam einen Blick auf den Übergang zu einer grüneren und nachhaltigeren Wirtschaft in Europe werfen und wie Sie diesen Übergang in Ihrem Tagesgeschäft begleiten können.
Doppel-Schock
Wir erleben derzeit einen „doppelten Schock“ – zuerst die Corona-Pandemie und jetzt einen Krieg in Europa. Beides zusammen ist für uns eine noch nie dagewesene Erfahrung.
Der erste Schock – die Pandemie – hat die Notwendigkeit unterstrichen, die europäische Wirtschaft nachhaltiger und digitaler zu machen.
Der zweite Schock – der Krieg in der Ukraine – hat uns die Energieabhängigkeit Europas vor Augen geführt. Der Krieg in der Ukraine hat auch den Druck auf die Inflation verstärkt. Aufgrund des Krieges sind die Rohstoffpreise so stark gestiegen, dass wir nun einen Teil unseres Wohlstands oder unseres Einkommens ins Ausland exportieren. Dieser Verlust ist größer als während der Ölkrise in den 70er Jahren. Besonders betroffen sind Menschen mit geringem Einkommen.
Diese Entwicklungen bedeuten drei Dinge für die europäische Wirtschaft:
Erstens: Um die Einkommensverluste auszugleichen, müssen wir Wege finden, die Produktivität zu steigern. Das wirksamste Mittel dafür sind Investitionen in die Modernisierung unserer Volkswirtschaften. Digitale Technologien und Innovation werden in diesem Prozess eine Schlüsselrolle spielen.
Zweitens brauchen wir auch bei der Digitalisierung strategische Unabhängigkeit. Deshalb sind digitale Investitionen Teil des 750 Milliarden Euro schweren europäischen Konjunkturprogramms. Die Mitgliedstaaten müssen bis 2026 mindestens 20 % für digitale Investitionen ausgeben. 1,2
Drittens lässt sich die Energieabhängigkeit am besten durch die Diversifizierung der Energiequellen und die Beschleunigung des Übergangs zu grüner Energie bekämpfen. Europa hat sich ehrgeizige Klimaziele gesetzt: bis 2030 sollen die Treibhausgasemissionen um mindestens 55 % unter das Niveau von 1990 gesenkt werden und 20 Jahre später will Deutschland „klimaneutral“ sein. 3
Wie können wir mit der Digitalisierung Schritt halten?
Eine der vielen Veränderungen, die die Pandemie mit sich gebracht hat, ist, dass unser Leben digitaler geworden ist. In vielerlei Hinsicht hat das Vorteile – es bedeutet bessere und effizientere Dienstleistungen. Gleichzeitig verlässt sich Europa aber zunehmend auf Unternehmen und Dienstleistungen aus den USA.
Das gilt auch für den Bankensektor, was Herausforderungen aber auch Chancen mit sich bringt.
Erstens birgt das rasche Wachstum von Neobanken (Fintech-Firmen) und Bigtech-Plattformen die Gefahr, dass ein großer Teil der Zahlungsverkehrs- und Finanzdienstleistungen an nicht oder nur wenig regulierte Wettbewerber vergeben wird.
Dabei kann eine unterschiedliche aufsichtsrechtliche Behandlung zu einer Aufsichtsarbitrage führen; dies erhöht die Risiken im gesamten Bankensystem und stellt eine große Herausforderung für bestehende Banken dar, die technologisch weniger fortgeschritten sind als ihre neuen Wettbewerber.
Der Internationale Währungsfonds hat gezeigt, dass digitale Banken sowohl bei der Kreditvergabe als auch bei der Vermögensallokation in ihren Anlageportfolios höhere Risiken eingehen. Das bedeutet mehr Wettbewerb in einem regulatorischen Umfeld, das noch immer einige Lücken aufweist.
Zweitens hat der Krieg in der Ukraine die Notwendigkeit, die Cybersicherheit zu fördern, wieder in den Vordergrund gerückt. Dies war schon in den letzten Jahren immer wieder ein Thema. Aber wir wissen, dass die Häufigkeit von Cyberangriffen zunimmt, und in einem feindseligeren oder konfliktreicheren internationalen Umfeld ist das Risiko solcher Angriffe sicherlich höher. Banken müssen alle notwendigen Investitionen tätigen, um besser auf Cyberangriffe vorbereitet zu sein.
Trotz dieser Risiken ist die Digitalisierung gleichzeitig eine Chance, man kann sogar sagen, es ist eine Notwendigkeit für Banken.
Ein wichtiger Weg zur Bewältigung der langfristigen Herausforderungen bei der Rentabilität ist die Senkung der Betriebskosten durch eine weitere Digitalisierung. Sie ist ein Schlüsselelement bei der Schaffung eines zukunftssicheren Geschäftsmodells. Im Vergleich zu den US-Banken haben Banken im Euroraum viel weniger in Informationstechnologie investiert. Während der Pandemie haben die Banken daher gezwungenermaßen begonnen, die notwendigen Investitionen zu tätigen.
Die Digitalisierung schafft Möglichkeiten für neue Produkte und Geschäfte.
Die Europäische Kommission schätzt, dass wir zur Schließung der Investitionslücke in Europa 125 Milliarden Euro pro Jahr benötigen – nur ein Bruchteil davon wird durch öffentliche Gelder gedeckt, der Löwenanteil muss aus dem Privatsektor kommen. Erhebliche Investitionen des Privatsektors werden dann erforderlich sein, wenn Unternehmen Zugang zu einer fortschrittlicheren digitalen Infrastruktur erhalten und ihr Geschäft ausweiten wollen. Das bedeutet Kreditgeschäft für die Banken.
Der digitale Euro
Aber wir können nicht über die Digitalisierung sprechen, ohne eines der bahnbrechendsten europäischen Projekte zu erwähnen, die derzeit geplant sind – den digitalen Euro. Die Europäische Zentralbank (EZB) befindet sich derzeit in der „Untersuchungsphase“, auf die die „Realisierungsphase“ folgen soll. Die Europäische Kommission beabsichtigt Anfang 2023 einen Gesetzesvorschlag für einen digitalen Euro vorlegen. 4
Der digitale Fortschritt und der Rückgang des Bargelds verändern die Dynamik des Zahlungsverkehrs. Der digitale Euro würde jedem die Möglichkeit bieten, Zentralbankgeld für digitale Zahlungen zu verwenden. Er wäre ein solides, zuverlässiges Zahlungsmittel. Und er würde die Koexistenz von staatlichem und privatem Geld bewahren.
Die gegenwärtigen Entwicklungen – mit stürzenden Krypto-Vermögenswerten und Stablecoins, die sich als weniger stabil erweisen als versprochen – verstärken die Notwendigkeit von digitalem Zentralbankgeld als sicheres Zahlungsmittel. Europa verhängte Sanktionen gegen Russland, indem es seine Macht über die Finanzinfrastruktur nutzte – SWIFT ist ein europäisches Unternehmen. In der Vergangenheit gab es jedoch Fälle, in denen europäische Bankgeschäfte von US-Sanktionen betroffen waren, und wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird.
Strategische Unabhängigkeit und Eigentum an der Zahlungsinfrastruktur werden wichtig sein. Ein digitaler Euro wird uns die Chance geben, eine wichtigere Rolle im internationalen Finanzsystem zu spielen und gleichzeitig finanzielle Autonomie und Schutz zu bieten.
Im Bankensektor und vielleicht auch hier im Publikum gibt es Befürchtungen, dass der digitale Euro Geschäfte wegnehmen und zu einer Disintermediation führen wird. Die EZB hat deutlich gemacht, dass der digitale Euro ihrer Ansicht nach nicht zu einer übermäßigen Disintermediation führen sollte, und sie wird diese Fragen bei der Gestaltung berücksichtigen.
Gleichzeitig bieten verbesserte Zahlungsprozesse die Chance, eine breitere Palette von Dienstleistungen effizienter und kostengünstiger anzubieten. Banken könnten dann die Bereitstellung digitaler Euros für ihre Kunden mit anderen Dienstleistungen bündeln.
Klimawandel: Risiken und Chancen für den Bankensektor
Neben der Digitalisierung ist der Klimawandel die zweite große Transformation, die die Banken betrifft. Der Klimawandel kann zu operativen Risiken, Marktrisiken und erhöhten Kreditrisiken für Banken führen. Ein Beispiel für erhöhten Kreditrisiken sind Hypothekenportfolios, die durch klimabedingte physische Risiken beeinträchtigt werden können. Darüber hinaus bedeutet die Notwendigkeit des Übergangs zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft, dass bestimmte sektorale Portfolios wie Kohlebergbau, Stromerzeugung, Öl und Gas Übergangsrisiken ausgesetzt sein können.
Der Banken- und Finanzsektor spielen bei der Bewältigung des Klimawandels eine wichtige Rolle. Die Herausforderung besteht darin, Investitionen und Finanzmittel zu mobilisieren, um den grünen Übergang zu unterstützen und Netto-Null-Emissionen zu erreichen.
Wie können Banken das volle Potenzial grüner Finanzierungen ausschöpfen und auf die Risiken des Klimawandels vorbereitet sein?
Zunächst müssen sie den Klimawandel zu einem Schlüsselelement ihrer Geschäftsstrategie machen. Das bedeutet, dass sie Umwelt-, Sozial- und Governance-Überlegungen (ESG) in die Gestaltung von Finanzdienstleistungen, die strategische Planung und Finanzprognosen, das Risikomanagement, die Offenlegung und die Berichterstattung einbeziehen; kurz gesagt, indem sie ESG in die gesamte Bilanz integrieren.
Auf der Anlageseite umfasst dies die Schaffung eines ESG-Rahmens für Investitionen, der es ermöglicht, Portfolioengagements zu erfassen und bei Bedarf Strategien für ein nachhaltigeres Portfoliomanagement zu entwickeln.
Auf der Finanzierungsseite sollten Banken ESG-Rahmenwerke einrichten und Finanzprodukte an ESG-Standards ausrichten.
Grün ist das neue Gold
Um die Klima- und Energieziele der EU bis 2030 zu erreichen, müssen erhebliche Investitionen im öffentlichen sowie im privaten Sektor mobilisiert werden. Die EU steht vor einer geschätzten Investitionslücke von mehr als 350 Milliarden Euro pro Jahr.
Der öffentliche Sektor wird zwar einen Beitrag zu diesen Bemühungen leisten, doch der Großteil der Investitionen muss vom privaten Sektor kommen. Der Bankensektor in Europa muss eine wesentliche Rolle bei der Mobilisierung der erforderlichen privaten Investitionen spielen, indem er Kapitalnehmer und -geber zusammenbringt. Damit dies geschehen kann, müssen die Banken mehr und bessere Finanzvermittlungsdienste anbieten, einschließlich Market-Making, sowohl national als auch grenzüberschreitend.
Konkret könnten Banken ihr Engagement bei grünen Anleihen verstärken. Auch wenn sich die Größe dieses Marktes im letzten Jahr verdoppelt hat, gibt es noch viel Raum für Wachstum. Wenn man bedenkt, dass grüne Anleihen nur einen Bruchteil des Gesamtvolumens der im letzten Jahr weltweit begebenen Anleihen ausgemacht haben, glaube ich, dass es einen enormen Bedarf und ein riesiges Potenzial gibt.
Grüne Taxonomie
Die kontinuierliche Entwicklung globaler Standards für nachhaltige Finanzen ist entscheidend, um weitere Investitionen zu fördern.
Dank der „grünen Taxonomie“ der EU werden mehr klimabezogene Daten öffentlich zugänglich sein – beispielsweise müssen europäische Banken ab 2024 eine „grüne Vermögensquote“ ausweisen, d. h. den Anteil der Vermögenswerte in ihrem Bankbuch, der mit der Taxonomie übereinstimmt.
Das Fehlen von Standards und „Greenwashing“ würde diese Bemühungen ernsthaft untergraben. Ich bin mir der Bedenken hinsichtlich der damit verbundenen Kosten und der Notwendigkeit weltweit koordinierter Standards bewusst. Die Bemühungen, weltweit eine gemeinsame Basis zu finden, sei es im öffentlichen Sektor durch das Financial Stability Board oder das International Sustainability Standards Board als privatwirtschaftlicher Organisation hier in Frankfurt, sind daher existenziell.
Schlussfolgerung
Der europäische Rettungsschirm sichert die Finanzstabilität im Euroraum. Dadurch wird die Fähigkeit Europas gestärkt, sich von dem „doppelten Schock“, Pandemie und Krieg, zu erholen.
Aus europäischer Sicht bergen die digitale und grüne Transformation für Sie im europäischen Bankensektor eine Reihe von Risiken, aber auch Chancen, die Sie nutzen sollten, um ein nachhaltiges Wachstum zu fördern. Die europäischen Regierungen, Bürger, Banken und die Realwirtschaft müssen zusammenarbeiten und gemeinsame Lösungen entwickeln, um unseren Wohlstand und unsere Sicherheit zu bewahren und auf globaler Ebene eine echte Wirkung zu erzielen. Um es mit den Worten des früheren Präsidenten der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker zu sagen: „Europa zeigt, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.“
Danke.
1 Europäischer Rat (2022), “Recovery and Resilience Facility”: https://www.consilium.europa.eu/en/infographics/20201006-recovery-resilience-rrf/
2 BMUV, “Climate Action Plan 2050 – Germany's long-term low greenhouse gas emission development strategy”, https://www.bmuv.de/en/topics/climate-adaptation/climate-protection/national-climate-policy/climate-action-plan-2050-germanys-long-term-low-greenhouse-gas-emission-development-strategy
3 EUR-Lex (2020), Kommunication “Stepping up Europe’s 2030 climate ambition Investing in a climate-neutral future for the benefit of our people”, COM/2020/562 final: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX:52020DC0562
4 Europäische Zentralbank (2022), Brief “Progress reporting on the investigation phase of a digital euro”, Letter from Fabio Panetta to Irene Tinagli, ECON Chair, on progress on digital euro investigation phase (europa.eu)