Safety measures concerning the Coronavirus COVID-19. Read more about the measures.

x

Klaus Regling's speech in Aachen (in German)

Speeches
Aachen

 

 

 

             

Klaus Regling, ESM Geschäftsführender Direktor
„Vom Rettungsschirm zum Europäischen Währungsfonds?“
Veranstaltung Stiftung Internationaler Karlspreis
Aachen, 7. Mai 2018
 
(Es gilt das gesprochene Wort)

 

Sehr geehrter Herr Jorias,
Sehr geehrter Herr Philipp
sehr geehrte Damen und Herren,
                         
zunächst möchte ich mich bei der Aachener Bank, der Stadt Aachen und beim Internationalen Karlspreis zu Aachen ganz herzlich für die Einladung bedanken, zur aktuellen Debatte über die Vertiefung der Währungsunion Stellung zu nehmen.

Nur wenige Tage, bevor Emmanuel Macron der Karlspreis hier in Aachen verliehen wird, könnte ich mir keinen besseren Ort vorstellen, um über die Vertiefung der Währungsunion zu sprechen. Macron hat mit seinem politischen Enthusiasmus für Europa, die ins Stocken geratene Reformdebatte wieder – „en Marche“ – in Bewegung gesetzt.

Zuerst werde ich skizzieren, wo wir derzeit im Euroraum stehen, wie wir die zurückliegende Krise überwunden haben und wie wir die Währungsunion noch krisenfester machen können.

Dabei möchte ich etwas länger auf drei Themen eingehen, die in Deutschland besonders kontrovers diskutiert werden: Griechenland, die Vollendung der Bankenunion, einschließlich einer europäischen Einlagensicherung sowie die zukünftige Rolle des ESM.
 
Es ist nicht allzu lange her, dass sich der Euroraum in seiner bislang schwersten Krise befunden hat. Doch diese Krise liegt nun hinter uns. Der Euroraum verzeichnet seit drei Jahren ein kräftiges Wachstum, an dem alle Länder teilhaben.

Die Schuldenstände sind rückläufig und die Haushaltsdefizite sind gesunken. Die hohen Leistungsbilanzdefizite, die die Krise mit verursacht haben und zeigen, dass ein Land mehr verbraucht als produziert, sind weitgehend verschwunden. Der Grund dafür ist, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit der damaligen Krisenländer deutlich verbessert hat.

Das Pro-Kopf-Wachstum im Euroraum, welches den durchschnittlichen Anstieg des Lebensstandards beschreibt, entspricht wieder dem Pro-Kopf-Wachstum der USA. In den letzten zwei Jahren war das Pro-Kopf-Wachstum hier sogar höher als auf der anderen Seite des Atlantiks.
 
Auch wenn die akuten Probleme überwunden sind: Es ist gut, sich daran zu erinnern, was wir in der Währungsunion seit 2010 alles getan haben, um die Krise zu überwinden – und welche Erfolge wir dabei hatten.

Europa hatte nicht nur eine, sondern zwei Krisen zu meistern: als Erstes mussten wir die Auswirkungen der globalen Finanzkrise 2008 überwinden. Anschließend ging es darum, unsere eigene hausgemachte Krise zu bewältigen - die Eurokrise.

Europa hat auf diese existenzielle Herausforderung mit einem umfassenden Maßnahmenpaket reagiert, das aus fünf wichtigen Elementen bestand:

Erstens haben die Krisenländer tiefgreifende Reformen umgesetzt, ihre öffentlichen Haushalte konsolidiert und ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessert. Verursacht wurde die Krise in diesen Ländern vor allem durch eine falsche Wirtschaftspolitik. Die Löhne und Gehälter stiegen deutlich schneller als die Produktivität. Das führte zu einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. Haushaltsdefizite waren zu groß. Am Ende verloren sie den Marktzugang, das heißt Investoren waren nicht mehr bereit, diesen Ländern neue Kredite zu gewähren.

Zweitens wurde die wirtschafts- und haushaltspolitische Koordinierung und Überwachung auf europäischer Ebene verbessert und breiter angelegt.

Drittens stabilisierte die Europäische Zentralbank (EZB) den Euro mit ihrer unkonventionellen Geldpolitik.

Viertens haben wir Europas Bankenunion mit dem Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM) und dem Einheitlichen Abwicklungsmechanismus (SRB) geschaffen. Die Aufgabe des SSM ist es, über systemrelevante Banken zu wachen. Eine Bank ist systemrelevant, wenn ihr Zusammenbruch das Funktionieren des gesamten europäischen Finanzsystems und der Realwirtschaft gefährden würde. Aufgabe des SRB ist es, im Notfall Banken abzuwickeln und das operative Geschäft zu beenden.

Und fünftens wurden die Euro-Rettungsschirme gegründet: 2010 zuerst die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF, als temporärer Rettungsfonds. Zwei Jahre später wurde der permanente Rettungsschirm aufgespannt, der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM).

Dank dieser fünf Elemente, die nur im Verbund erfolgreich sein konnten, hat der Euroraum die Krise überwunden.
 
Mit der Gründung der Rettungsschirme wurde in der Währungsunion eine institutionelle Lücke gefüllt. Vor 2010 gab es keinen „Kreditgeber der letzten Instanz“ für Euro-Länder. Denn die Rolle der EZB ist es, im Euroraum Kreditgeber der letzten Instanz der Banken zu sein, nicht aber der Staaten.

Bei der Kreditauszahlung folgt der ESM dem Prinzip, das sich beim Internationalen Währungsfonds (IWF) seit Jahrzehnten bewährt hat: Darlehen werden nur dann ausgezahlt, wenn das Empfängerland die Reformen umsetzt, zu denen es sich als Teil des ESM-Programms verpflichtet hat. Dazu gehören typischerweise Haushaltskonsolidierung, Strukturreformen und die Reparatur des Bankensektors. Diese Reformen sind oft schmerzhaft für die Bevölkerung und politisch schwierig für die Regierung. Aber sie sind notwendig, um die verlorene Wettbewerbsfähigkeit in der Währungsunion wiederzugewinnen und das verschwundene Vertrauen der Investoren wiederzuerringen.

Das Geld für die Darlehen bekommen die Rettungsfonds, indem sie regelmäßig Anleihen begeben. Der ESM gehört zu den größten Anleihe-Emittenten im Euroraum. Die Krisenstaaten müssen ihre Darlehen in vollem Umfang mit Zinsen zurückzahlen. Anders, als manchmal behauptet wird, gibt es bei den ESM-Programmen keinen Transfer von Steuergeldern. Allerdings werden Risiken übernommen.

Der ESM hat ein gezeichnetes Kapital von €700 Milliarden, gut €80 Milliarden davon sind eingezahltes Kapital. Das ist das höchste eingezahlte Kapital aller internationaler Finanzinstitutionen. Dieses Kapital wird nicht zur Kreditvergabe genutzt. Vielmehr dient es als Sicherheit für die Investoren in ESM-Anleihen. Diese Sicherheit ist der Grund, weshalb der ESM am Markt nur sehr niedrige Zinsen zahlen muss.

Unsere Zinsen liegen deutlich unter dem, was diese Länder sonst am Markt bezahlen müssten. Deshalb sparen sie viel Geld. Im Falle Griechenlands schätzen wir, dass die ESM-Kredite jedes Jahr zu Haushaltseinsparungen im griechischen Staatshaushalt von fast €10 Milliarden führen und dies ohne, dass sie den europäischen Steuerzahler etwas kosten. Diese Einsparungen sind ein Ausdruck von Solidarität, den die Euroländer untereinander leisten.

Seit 2011 haben der EFSF und der ESM zusammen Kredite an fünf Länder vergeben: Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern. Der ESM hat in diesem Zeitraum Darlehen von rund €280 Milliarden ausgezahlt. Vier der fünf der Programmländer sind heute wirtschaftliche Erfolgsgeschichten. Denn diese Länder können sich heute wieder problemlos am Markt refinanzieren. Sie verzeichnen rasch sinkende Arbeitslosigkeit und gehören zu den dynamischsten Volkswirtschaften Europas. Auch Griechenland unternimmt große Anstrengungen, um die strikten Reformauflagen zu erfüllen. Dennoch ist Griechenland das einzige verbliebene ESM-Programmland.

Griechenland ist ein Sonderfall, und das hat drei Gründe: Erstens hatte Griechenlands Wirtschaft viel tiefgreifendere Probleme als die anderen Programmländer. Zweitens litt das Land unter einer sehr viel schwächeren öffentlichen Verwaltung als das in den anderen Eurostaaten der Fall war. Und drittens marschierte die Regierung 2015 mit dem damaligen Finanzminister Varoufakis im ersten Halbjahr in die falsche Richtung: wichtige Reformen wurden rückgängig gemacht, der Versuch wurde unternommen, das vereinbarte Reformprogramm zu stoppen. Im Ergebnis fiel die griechische Wirtschaft in eine Rezession zurück. Der „Grexit“ wurde plötzlich zu einem realistischen Szenario. Die griechische Notenbank schätzt, dass dieser Irrweg Griechenland €86 Milliarden gekostet hat.

Doch in der zweiten Jahreshälfte 2015 kehrte die Regierung auf den Reformpfad zurück. Insgesamt hat Griechenland heute beeindruckende Anpassungsanstrengungen hinter sich. So lag das Haushaltsdefizit zu Krisenbeginn in 2009 bei über 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Seit zwei Jahren erwirtschaftet das Land einen Haushaltsüberschuss, also eine „schwarze Null“. Ein solcher Konsolidierungserfolg ist nur mit tiefgreifenden Reformen möglich.

Setzt die Regierung in Athen alle ausstehenden Reformen entschlossen um, kann Griechenland das ESM-Programm im August 2018 erfolgreich verlassen. Wenn wir mit unseren europäischen Partnerinstitutionen zu dem Schluss kommen, dass die Auflagen erfüllt wurden, kann das Programm abgeschlossen werden und eine letzte Darlehensauszahlung stattfinden.

Außerdem könnten die Euro-Finanzminister dann erwägen, Griechenland weitere Schuldenerleichterungen – wie zum Beispiel längere Kreditlaufzeiten – zu gewähren. Das haben die Finanzminister bereits im Mai 2016 und im Juni 2017 in Aussicht gestellt. Dabei ist und bleibt klar, dass ein nominaler Schuldenschnitt ausgeschlossen ist.

In dem letzten Treffen der Euro-Finanzminister vor zehn Tagen hat Griechenland seine Wachstumsstrategie präsentiert. Ich begrüße das. Denn das Ziel aller Anpassungsprogramme und Reformen in den letzten acht Jahren war, eine neue Grundlage für ein gutes, gesundes Wachstum in Griechenland zu schaffen. Das liegt im Interesse der Griechen. Aber es liegt auch im Interesse des ESM. Denn wir sind bei weitem der größte Gläubiger Griechenlands. Wir haben bereits €187 Milliarden an Darlehen ausgezahlt, das sind rund 100% des griechischen Bruttoinlandsprodukts und mehr als 50% der öffentlichen Schulden des Landes.

Kann Griechenland all das geliehene Geld jemals zurückzahlen? Meine Antwortet lautet „Ja". Jahrzehnte an Erfahrungen in vergleichbar schwierigen Fällen zeigen, dass krisengeschwächte Volkswirtschaften Rettungsdarlehen voll zurückzahlen können, wenn die Rückzahlungspflichten zeitlich lange gestreckt werden und im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung eine Schwelle von 15 bis 20 Prozent nicht überschreiten. Mit der Rückzahlung von Schulden über sehr lange Fristen hat man auch hierzulande Erfahrung. So hat Deutschland die letzte Rate entsprechend dem Londoner Umschuldungsabkommen von 1953 erst im Jahr 2010 zurückgezahlt.

Die nächsten Wochen und Monate werden sehr arbeitsintensiv. Die Experten vom ESM kehren zusammen mit ihren Kollegen der Europäischen Kommission, der EZB und des IWF Mitte Mai nach Athen zurück. Dort werden sie einen gemeinsamen Abschlussbericht ausarbeiten. Fällt der Bericht positiv aus, wird es zu einer letzten Auszahlung des ESM kommen. Außerdem wird dann über die Fragen möglicher zusätzlicher Schuldenerleichterungen entschieden.
 
Meine Damen und Herren, die aktuell sehr gute wirtschaftliche Entwicklung in Europa verleitet dazu, etwas bequemer und selbstzufriedener zu werden. Das kann gefährlich sein. Denn Markwirtschaften entwickeln sich immer in Zyklen. Auch der Aufschwung der letzten zwei Jahre ist zyklisch, und auf ein Hoch folgt daher ein Tief. Obwohl es derzeit keine Anzeichen für eine Krise gibt, sieht es so aus, als ob der Höhepunkt der wirtschaftlichen Expansion hinter uns liegt. In diesem und im nächsten Jahr dürfte sich das Wachstum nach der Kommissionsprognose von vergangener Woche auf 2,3% bzw. 2,0% merklich verlangsamen.

Es ist außerdem eine alte menschliche Erfahrung, dass schwierige politische Entscheidungen und schmerzhafte Reformen in Krisenzeiten leichter getroffen und umgesetzt werden. In wirtschaftlich guten Zeiten ist es dagegen schwerer, die politische Energie für schwierige Entscheidungen zu mobilisieren.

Ich sage das, weil wir in Europa Pläne diskutieren, um die Währungsunion noch krisenfester zu machen.

Im vergangenen Dezember haben sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Kollegen aus den anderen EU-Ländern darauf verständigt, bis zum Gipfel im Juni an zwei Themen zu arbeiten: an der Vollendung der Bankenunion und an der Weiterentwicklung des ESM. Es gibt in Europa auch Diskussionen über weitere fiskalische Instrumente. Allerdings gehen die Meinungen hier weit auseinander.

Was benötigen wir in der Bankenunion, um die Währungsunion noch robuster zu machen?

Erstens braucht der Einheitliche Abwicklungsfonds (SRF) eine Letztabsicherung, um auch für sehr große Krisen ausreichend Geld zu haben. Die Bankenabwicklung in den USA hat eine vergleichbare Letztabsicherung, die in den vergangenen Jahrzehnten nur zwei Mal benutzt werden musste.

Zweitens geht es um eine gemeinsame Einlagensicherung (EDIS). Ich weiß, dass das Thema Einlagensicherung in Deutschland äußerst umstritten ist. Deshalb möchte ich Ihnen erklären, warum nach meiner Meinung die europäische Einlagensicherung auch im deutschen Interesse liegt.

Während der Euro-Krise haben die Regierungen zu Recht beschlossen, die institutionelle Architektur der Eurozone zu stärken. Künftige Turbulenzen sollten uns nicht mehr so erschüttern und die Steuerzahler nicht so belasten, wie wir es 2010-2013 erlebt haben. Daher wurden die Bankenunion auf den Weg gebracht und striktere Aufsichtsregeln vorgeschlagen.

Eine europäische Einlagensicherung ist der letzte Baustein, der die Bankenunion vollenden würde. Sie würde entscheidend dazu beitragen, die Fragmentierung der Finanzmärkte in Europa zu überwinden und einen wirklichen einheitlichen europäischen Finanzmarkt zu schaffen.

Noch ist die Zeit die europäische Einlagensicherung nicht reif. In einigen Bankensystemen schlummern noch immer Risiken, zum Beispiel notleidende Kredite. Es gab in jüngerer Zeit zwar beachtliche Fortschritte beim Abbau dieser notleidenden Darlehen. Doch der Trend muss entschlossen weitergeführt werden. Auch sollte der hohe Anteil von heimischen Staatsanleihen in den Bankenbilanzen einiger Länder zurückgefahren werden.

Kommt es auf diesen Gebieten zu nachprüfbaren Fortschritten, sollte sich Deutschland einer europäischen Einlagensicherung aus wohlverstandenem Eigeninteresse nicht versperren. Zum Beispiel wären die Darlehensvolumen unserer vergangenen Rettungsprogramme deutlich niedriger ausgefallen, hätte es damals schon eine solche Einlagensicherung gegeben. Denn ein großer Teil der Rettungspakete musste zur Rekapitalisierung der Banken in den Krisenstaaten verwendet werden. Der Grund dafür war, dass verunsicherte Sparer in der Krise ihre Ersparnisse abgehoben haben. Hätte es damals bereits eine glaubwürdige europäische Einlagensicherung gegeben, hätte es für derartige massive Depositenabzüge keinen Grund gegeben.

Ein weiterer Vorteil der europäischen Einlagensicherung wäre, dass sie die Fragmentierung des europäischen Finanz- und Kapitalmarktes abbauen würde. Das würde die Geldpolitik im Euro-Währungsraum effektiver machen und es der EZB wahrscheinlich erlauben, ein höheres Zinsniveau anzusteuern. All das wäre auch im deutschen Interesse.

Neben der Vollendung der Bankenunion ist die Weiterentwicklung des ESM das zweite Thema auf der Agenda, wenn sich die Staats- und Regierungschefs im Juni zu ihrem nächsten Gipfel treffen.

Um die Währungsunion krisenfester zu machen, könnte der ESM einige neue Aufgaben übernehmen.

Erstens könnte der ESM die finanzielle Letztabsicherung für den Einheitlichen Abwicklungsfonds (SRF) organisieren. Der ESM würde also dem europäischen Bankenabwicklungsfonds SRF eine Kreditlinie zur Verfügung stellen. Diese Kreditlinie hätte ungefähr das gleiche Ausmaß wie die Eigenmittel des Fonds, das heißt zwischen €55 und €60 Milliarden. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass der SRF auf diese Kreditlinie zurückgreifen müsste, gilt natürlich, dass der SRF dieses Geld wieder zurückzahlt und zwar über Zwangsabgaben von den europäischen Großbanken.

Zweitens könnte man dem ESM in Zukunft eine stärkere Rolle bei künftigen Krisenprogrammen geben: in zukünftigen Rettungsprogrammen könnten wir zusammen mit der Kommission eine wichtigere Rollen spielen. Die Vorbereitung und Überwachung von Anpassungsprogrammen könnte zu einer gemeinsamen Aufgabe der Kommission und des ESM werden. Seit dem Beginn der Krise 2010 hat sich die Rolle des IWF verringert. Besonders am Anfang wurden das Geld und das Fachwissen des IWF in Europa dringend benötigt. Doch im Laufe der Zeit sind die Beiträge des IWF von einem Drittel auf ein Zehntel und dann auf null für das aktuelle griechische Programm zurückgegangen. Zudem gibt es innerhalb des IWF Kritik seitens seiner außereuropäischen Mitglieder daran, dass der Fonds zu sehr in Europa engagiert sei. Es spricht deshalb einiges dafür, dass wir künftig nicht mehr in gleichem Maße auf den IWF zählen können wie in der Vergangenheit.

Drittens, wäre es sinnvoll, den „Instrumentenkasten“ des ESM zu überprüfen. Der ESM hat derzeit mehrere Instrumente, mit denen er Euro-Staaten in einer Krise unterstützen kann. Nur zwei der sechs Instrumente wurden bislang genutzt: klassische Darlehen im Rahmen eines umfassenden volkswirtschaftlichen Anpassungsprogramms im Fall von Griechenland, Irland, Portugal und Zypern. Und ein Darlehen an die spanische Regierung zur Rekapitalisierung des Bankensektors. Im Lichte dieser Erfahrung könnte man prüfen, ob alle ESM-Instrumente ihre Existenzberechtigung haben oder verbessert werden könnten.

Zugleich könnte überlegt werden, ob neue Instrumente die Stabilität der Währungsunion weiter verbessern könnten. Dabei könnte es vor allem um eine neue Finanzfazilität zur makroökonomischen Stabilisierung im Fall von kleineren Krisen gehen, in die ein Land ohne Eigenverschulden gerät.

Ein hypothetisches Beispiel für eine solche Krise könnte Irland sein für den Fall, dass es zu einem sehr harten und ungeordneten Brexit käme. Wegen seiner engen Wirtschaftsbeziehung zu Großbritannien wäre Irland viel stärker von einer solchen Entwicklung betroffen als alle anderen EU-Mitgliedstaaten.

Hätte Irland seine eigene Währung und Zentralbank, könnte die Zentralbank geldpolitisch gegensteuern. In unserer Währungsunion kann die EZB ihre Geldpolitik nur am gesamten Euroraum ausrichten, nicht an einzelnen Ländern. Hier könnte ein kurzfristiges ESM-Darlehen mit weniger Reformauflagen nützlich sein. Es könnte auch verhindern, dass aus einer relativ kleinen Krise eine große Krise wird, die möglicherweise ein großes ESM-Programm erfordert. Ganz wichtig: Es handelt sich auch hierbei nicht um Finanztransfers, sondern ein solcher Kredit müsste innerhalb eines Konjunkturzyklus – fünf bis sechs Jahre – zurückgezahlt werden.

Viertens könnte der ESM auch eine Rolle bei Umschuldungen spielen, zum Beispiel, wenn die Mitgliedstaaten sich entscheiden würden ein Rahmenwerk für Umschuldungsverfahren mit privaten Gläubigern zu schaffen. Der ESM hat einerseits Erfahrungen beim Thema Schuldentragfähigkeit. Anderseits ist er am Markt tätig. Deshalb könnte er in einem solchen Rahmenwerk die Rolle des neutralen Mediators übernehmen. Dieser Prozess müsste flexibel gestaltet werden, Entscheidungen müssten von Fall zu Fall bewertet werden. Dem Vorschlag von automatischen Laufzeitenverlängerungen stehe ich skeptisch gegenüber. Automatische Laufzeitenverlängerungen könnten nämlich prozyklisch wirken und eine Krise herbeiführen, die noch hätte verhindert werden können.

Lassen Sie mich meine Ausführungen zum ESM mit dem Thema beenden, wie der ESM institutionell aufgestellt sein sollte. Der Vertrag, auf dessen Grundlage der ESM während der Krise aufgebaut wurde, ist zwischenstaatlicher Natur. Juristisch ist der ESM keine EU-Institution der 28 Mitgliedstaaten. Vielmehr sind die 19 Euro-Länder Anteilseigner des ESM. Im Dezember hat die Kommission vorgeschlagen, den ESM in das Unionsrecht zu überführen. Allerdings möchte die Kommission diese Überführung durch eine Änderung von Sekundärrecht vornehmen. Ein Weg, der eigentlich nur für kleinere technische Anpassungen vorgesehen ist. Die meisten der ESM-Mitgliedstaaten lehnen diesen Weg ab.

Die Überführung des ESM in den Rechtsrahmen der Europäischen Union sollte dann erfolgen, wenn eines Tages der EU-Vertrag geändert wird. Vorbild wäre dabei die Europäische Investitionsbank (EIB), die in die EU-Verträge mit einem eigenen Protokoll verankert ist, eigenes Kapital und einen Verwaltungsrat hat, in dem seine Anteilseigner, die EU-Mitgliedsstaaten, vertreten sind. In unserem Fall wären das die 19 Euro-Staaten. Notwendig wäre dafür eine Änderung des Primärrechts, also des EU-Vertrags. Dazu wird es kurzfristig nicht kommen, mittel- bis langfristig wäre eine solche Lösung sinnvoll.
 
Da ich in Aachen und damit in Deutschland spreche, möchte ich zum Abschluss ein paar Worte zur Rolle Deutschlands in der Währungsunion sagen.

In Deutschland ist Europa-Freundlichkeit Teil der politischen Tradition. Im aktuellen Koalitionsvertrag kommt das Wort „Europa“ über 300 Mal vor. Das Politbarometer vom April zeigte, dass 88 Prozent der Deutschen sich eine deutlich engere Kooperation auf EU-Ebene wünschen, 62 Prozent der Befragten sind für eine viel engere Verzahnung im Bereich der Finanzpolitik innerhalb der EU. Laut einer Umfrage von GfK und dem Deutschen Bankenverband, halten zwei Drittel der Deutschen „viel“ (46%) oder „sehr viel“ (20%) von der EU. Derzeit würden sich 70 Prozent für den Verbleib Deutschlands in der EU aussprechen, sollten sie über den Austritt aus der EU abstimmen müssen wie die Briten. Und 81% befürworten den Euro laut Eurobarometer.

Aber man muss auch sagen: Deutschland ist der Euro-Rettungsstrategie gegenüber immer recht skeptisch gewesen. Das gilt zum Beispiel für die Geldpolitik. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie die Medien und viele Volkswirtschaftsprofessoren 2011-2012 eine Hyperinflation an die Wand gemalt haben, als die EZB mit ihrer unkonventionellen Geldpolitik begann. Als die EZB begann, Staatsanleihen zu kaufen, wurden riesige Verluste prophezeit. Stattdessen gibt es große Gewinne bei der EZB. Laut aktuellen Daten der Bundesregierung hat Deutschland dank der Niedrigzinspolitik der EZB in den vergangenen zehn Jahren mehr als 160 Milliarden Euro an Schuldendienstkosten gespart.

Auch die Rettungsschirme waren in Deutschland stets von juristischen Kontroversen begleitet. So muss ich immer wieder lesen, bei der Eurorettung habe es „Rechtsbruch“ gegeben. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht die Rechtmäßigkeit der Rettungsschirme EFSF und ESM mehrfach festgestellt.

Seit 2011 hat das Bundesverfassungsgericht fünf Urteile in dieser Sache erlassen. Karlsruhe hat dabei die Beteiligungsrechte des Bundestags gestärkt. Der deutsche Finanzminister braucht für alle wichtigen ESM-Entscheidungen ein Parlamentsmandat. Weil alle wichtigen Entscheidungen des ESM einstimmig erfolgen, kann es deshalb keinen ESM-Beschluss gegen Bundesregierung und Parlament geben.

Auch der Europäische Gerichtshof hat festgestellt, dass die Gewährung von Finanzhilfen seitens des ESM nicht gegen die „No-bail-out-Klausel“ verstößt. Der Grund dafür ist, dass die Programmstaaten weiterhin für ihre Verbindlichkeiten gegenüber den Gläubigern haftbar bleiben. Damit bleibt das Haftungsprinzip auch nach der Schaffung des ESM gewahrt.

Zur Gründung der Rettungsfonds gab es keine wirkliche Alternative. Hätte man die Rettungsschirme zum Höhepunkt der Eurokrise nicht aufgespannt, wären Länder wie Griechenland, Irland und Portugal vermutlich unter chaotischen Umständen aus der Währungsunion ausgeschieden. Wegen der Ansteckungseffekte hätten andere Volkswirtschaften in Gefahr geraten können und der Euro insgesamt wäre gefährdet gewesen. Europa würde heute anders aussehen!
Das hätte besonders Deutschland geschadet. Mit seiner zentralen Lage im Herzen Europas und als exportorientierte Volkswirtschaft profitiert kaum ein Land mehr vom Euro als Deutschland.
 
Sehr geehrte Damen und Herren,
lassen Sie mich zum Ende kommen. Ich hoffe, mein Überblick hat Ihnen geholfen, bei dem einen oder anderen Thema etwas mehr Klarheit zu erlangen.

Meine Bilanz ist eindeutig: Europas Strategie gegen die Krise ist aufgegangen. Die erfolgreiche Arbeit des ESM fördert Stabilität, Wachstum und Investitionen in Europa. Dies wirkt sich positiv auf die Wirtschaftslage aus, nicht nur für einzelne Länder, sondern für den gesamten Euroraum.

Ich hoffe, in den nächsten Monaten wird es möglich sein, auch ohne den Druck einer Krise, weitere Fortschritte bei der Stärkung der Währungsunion zu erreichen. Wir sollten vorrausschauend handeln und die noch verbleibenden Probleme beseitigen. Es ist wichtig, dass Europa gut vorbereitet ist, wenn die nächste Krise kommt.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und freue ich nun auf eine rege Diskussion.

 
 

Contacts

Head of Communications and Chief Spokesperson
+352 260 962 205

Deputy Head of Communications and Deputy Chief Spokesperson
+352 260 962 551

Principal Speechwriter and Principal Spokesperson
+352 260 962 654

Senior Financial Spokesperson
+352 260 962 232