Klaus Regling Luxemburger Wort interview (German version)
Interview mit Klaus Regling, ESM Geschäftsführender Direktor
Luxemburger Wort
Erscheinungstag: 8. Oktober 2022, ausgeführt: 5. Oktober 2022
Interviewer: Thomas Klein
Originalsprache: Deutsch
Luxemburger Wort: Klaus Regling, Sie wurden 2010 mitten in der Eurokrise beauftragt, den Rettungsschirm „Europäische Finanzstabilisierungsfazilität“ (EFSF) aufzubauen. Beschreiben Sie die Situation zu diesem Zeitpunkt.
Klaus Regling: Es war eine wirkliche Krise für Europa und die betroffenen Länder. Der Euro selbst wäre nicht verschwunden, aber die Währungsunion hätte deutlich kleiner werden können.
Insofern musste alles sehr schnell gehen. Man hat ja zuerst versucht, durch eine bilaterale Aktion Griechenland mit 53 Milliarden Euro zu helfen, aber das reichte nicht. Und es wurde auch deutlich, dass es eben nicht nur um Griechenland ging, sondern auch um einige andere Länder. Deshalb hat man in aller Eile die EFSF geschaffen.
Wie kann man sich den Aufbau einer solchen Struktur innerhalb weniger Monate vorstellen?
Die rechtlichen Voraussetzungen hat man sehr schnell geschaffen in Nachtsitzungen der Eurogruppe. Aber dann musste die Institution aufgebaut werden. Nachdem ich ernannt war, war das eben meine Aufgabe. Und es war ja nichts da: Keine Mitarbeiter, kein Büro, keine Telefonnummer, nicht einmal eine E-Mail Adresse. Das Einzige, was da war, war meine Erfahrung und die Bereitschaft der anderen europäischen Institutionen zu helfen.
Die Europäische Investitionsbank (EIB), die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank haben ganz schnell jeweils einen Mitarbeiter geschickt, damit überhaupt jemand da war und ich nicht ganz alleine war. Die EIB hat uns erlaubt, uns an ihr IT System anzudocken, und hat die Rechnungslegung für uns abgewickelt. Die Finanzagentur hat die ersten Anleihen begeben im Namen der EFSF. Auch die Luxemburger Regierung hat das alles sehr kooperativ mitentwickelt. Nach zwei Monaten waren wir acht Personen und die mussten sehr hart arbeiten. Zum Beispiel mussten wir mit den Ratingagenturen verhandeln. Das war nicht leicht in einer Zeit, als diese von allen kritisiert worden waren, auch von mir, weil sie zu leichtfertig Triple A vergeben hatten. Und dann kam ich und wollte auch ein Triple A haben für diese neue Institution, die keiner kannte.
Wie lange hat es gedauert, bis Sie arbeitsfähig waren?
Schnelligkeit war in der Situation entscheidend. Sieben Monate nach der Schaffung der EFSF mussten wir die erste Anleihe begeben und das ist für eine neue Institution ganz ungewöhnlich.
Das war auch notwendig, denn wir brauchten das Geld dann bereits für das irische Programm. Wenn wir drei Jahre gebraucht hätten, dann wäre die Eurozone geschrumpft.
Es gab ja kein richtiges Vorbild für so einen Fonds. Woran haben Sie sich beim Aufbau der Strukturen orientiert?
Ja, es war nicht vorgesehen in unserer Währungsunion, dass ein Land den Marktzugang verliert. Bei der Kreditvergabe haben wir uns am Internationalen Währungsfonds (IWF) orientiert. Bei der Refinanzierung nicht, denn der IWF refinanziert sich über die Notenbanken der Mitgliedstaaten. Wir haben aber kein Geld von Notenbanken bekommen.
Wir mussten uns das Geld, das war von Anfang an so vorgesehen, am Markt besorgen durch die Ausgabe von Anleihen. Aber was da mit dem Geld gemacht wurde und das Prinzip der Konditionalität, das hat sich am Vorbild des IWF orientiert. Da mussten wir nichts Neues erfinden. Wir haben mit den Krediten Auflagen verknüpft, um die Probleme, die zum Verlust des Marktzugangs geführt hatten, zu beseitigen.
Gab es Momente, in denen Sie gedacht haben, dass es trotz aller Bemühungen scheitern könnte?
Das Risiko, dass es nicht funktioniert, war immer da. Wir waren wirklich in einer schwierigen Lage. Die eine Hälfte des internationalen Finanzmarktes glaubte, der Euro würde in den nächsten Jahren verschwinden. Die Mehrheit an der Wall Street und in London dachte, dass der Euro nach fünf Jahren nicht mehr da sein würde. Deshalb hatten die auch kein Interesse, die Anleihen der EFSF aufzukaufen.
Darum bin ich in den ersten Monaten und Jahren pausenlos nach Asien und in den Mittleren Osten geflogen, um dort die Investoren zu überzeugen, dass wir die Sache in den Griff bekommen würden. Wenn das gescheitert wäre, und die EFSF keine Anleihen hätte verkaufen können, dann hätten wir die Programme nicht finanzieren können, und dann wären ein, zwei oder drei Länder rausgefallen aus dem Euro. Das war eine wirklich kritische Phase.
Als das dann gelungen ist, im ersten Halbjahr 2011, dass wir tatsächlich ohne Probleme unsere Anleihen verkauft haben und in der Folge 60 oder 70 Milliarden Euro im Jahr an Anleihen platzieren konnten, wussten wir, dass wir unseren Anteil geleistet hatten.
Wenn alles so schnell gehen muss, passieren Fehler. Was würden Sie im Rückblick anders machen?
Beim Aufbau der Institution hat es eigentlich keine Fehler gegeben, das hat sich auch im Rückblick alles als überraschend richtig erwiesen. Die EFSF hat ja nur gut zwei Jahre Kredite vergeben, dann wurde es mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) durch eine permanente Institution mit einer anderen Struktur abgelöst. Die EFSF war von vornherein als temporäre Institution angelegt.
Also, Fehler kann ich eigentlich nicht wirklich feststellen. Die Governance dieser Strukturen ist vielleicht etwas mühsam, weil alle wichtigen Beschlüsse einstimmig gefällt werden müssen. Wir haben es aber in der Krise trotzdem geschafft, fünf Ländern zu helfen mit fast 300 Milliarden Euro.
Im Gegenteil waren die Erfahrungen, die wir in der Krise gemacht haben, essenziell, um dann während der Pandemie das Programm „Next Generation EU“ aufzusetzen. Das orientiert sich an einem ähnlichen Prinzip, indem die Kreditwürdigkeit der Mitgliedstaaten dazu genutzt wird, um ein Triple A zu erhalten und dadurch zinsgünstige Anleihen zu begeben. Das hat es zum ersten Mal in dem Ausmaß bei uns gegeben.
Warum ist damals die Entscheidung auf Luxemburg als Standort gefallen?
Luxemburg hat ja traditionell den Anspruch, dass die Finanzinstitutionen der EU hier sitzen. Die Europäische Investitionsbank ist das größte Beispiel, aber es ist nicht das einzige, die Europäische Zentralbank (EZB) ist da eher die Ausnahme. Daher war das ein logischer Schritt.
In der Pandemie wurden die Hilfen vom ESM nicht in Anspruch genommen. Hat der ESM als Kriseninstrument an Bedeutung verloren?
Dass unser Geld aktuell nicht genutzt wird, sehe ich als positiv. Denn das ist ja gerade unsere Aufgabe, Krisenprävention zu betreiben. Dadurch, dass unser Geld nicht gebraucht wird, wird unsere Arbeit nicht unnötig. Während der Pandemie haben wir eine neue Fazilität entwickelt, bei der gar nicht unbedingt die Absicht besteht, dass es zur Auszahlung kommt. Aber es wirkt beruhigend auf die Märkte, weil sie wissen, dass so eine vorbeugende Fazilität vorhanden ist, auf die Länder relativ rasch zurückgreifen können. Die Agenturen haben das in ihren Kreditratings berücksichtigt.
Natürlich haben wir schon das politische Problem, dass einige Länder sagen, die Auflagen in der Vergangenheit waren so hart, wir wollen keine ESM Gelder in Anspruch nehmen. Aber die Konditionalität variiert ja mit den zugrunde liegenden Problemen. Und bei der Pandemie gab es ja keine Politikfehler, die korrigiert werden mussten. Hier handelte es sich um einen externen Schock, für den die Regierungen nichts konnten. Und deshalb waren die Auflagen dafür auch weit weniger streng.
Ist die Währungsunion seit der Eurokrise widerstandsfähiger geworden?
Ja, sicherlich. Gerade durch die Schaffung des ESM wurde eine Lücke in der Architektur der Währungsunion geschlossen. Denn jetzt gibt es einen „Lender of last resort“ für Länder der Eurozone. Die EZB darf diese Rolle aufgrund des Maastrichter Vertrags nicht spielen. Die kann das nur für Banken.
Darüber hinaus haben wir eine große Zahl von neuen europäischen Institutionen geschaffen, wie der einheitliche europäische Aufsichtsmechanismus , der einheitliche Abwicklungsmechanismus oder der Europäische Ausschuss für Systemrisiken mit dem Mandat, potenzielle Risiken zu analysieren und einzudämmen. All das hilft, mit den heutigen Krisen besser fertig zu werden. Aber der Prozess sollte weitergehen, es gibt weitere Lücken, die bisher nicht geschlossen sind.
Welche?
Zum Beispiel die Vollendung der Bankenunion, der Kapitalmarktunion und eine fiskalische Kapazität zur makroökonomischen Stabilisierung. Das sollte dazu führen, dass wir mehr Konvergenz bekommen innerhalb der Währungsunion, weil wir mehr automatische Anpassungsmechanismen hätten, wie das in den USA zum Beispiel der Fall ist, wo sich einzelne Regionen auch oft konjunkturell oder strukturell auseinander bewegen.
Durch die Pandemie, Krieg und Energiekrise geben die Staaten viel Geld aus. Gleichzeitig steigen die Zinsen. Besteht die Gefahr einer neuer Schuldenkrise?
Das sehe ich aktuell nicht. Grundsätzlich kann sich natürlich jedes Land durch falsche Politik in eine Schuldenkrise hinein bewegen. Tatsache ist, dass die Schuldenstände in den Euroländern wegen der letzten beiden Krisen höher sind als vor zehn Jahren.
Aber die Belastung der nationalen Budgets durch den Schuldendienst ist sehr viel geringer geworden. Nur weil die Zinsen steigen, bedeutet das nicht, dass wir in eine neue Schuldenkrise geraten. Es wird viele Jahre dauern, bis die steigenden Zinsen sich durchschlagen auf die Haushalte der einzelnen Länder. Die meisten Staaten haben die letzten Jahre genutzt, um die durchschnittliche Laufzeit ihrer Schulden zu erhöhen. Acht Jahre sind jetzt die Durchschnittslaufzeit in der Eurozone. Bei manchen wie Griechenland sind es sogar über 20 Jahre wegen unserer langlaufenden Kredite.
Das heißt, was immer an Zinssteigerung geschieht, dauert das eine Zeit bis sie voll in den Budgets der einzelnen Länder niederschlägt. Abgesehen davon ist der aktuelle Zinssatz jetzt ist immer noch deutlich niedriger als die Durchschnittszinsen vor zehn oder 20 Jahren. Der Anteil des Schuldendienstes im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung ist auf dem niedrigsten Stand seit 30 Jahren. Da ist eine Menge Luft nach oben.
Wie groß ist der Spielraum? Hat sich die Einschätzung in den letzten Jahren geändert, wie hoch die Verschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt sein darf, ohne dass es gefährlich wird?
Ich denke schon, weil sich das Umfeld geändert hat. Es gibt vielfältige Forschungsarbeiten, die darauf hinweisen, dass die Zinsen in Zukunft dauerhaft niedriger sein werden als früher, auch wenn sie im Moment steigen. Das hat mit der Demographie zu tun und auch mit der ungleichen Verteilung der Vermögen.
Ältere und vermögende Menschen konsumieren weniger und sparen viel mehr. Und dadurch haben wir in der Welt höhere Ersparnisse, die aber auf eine geringere Nachfrage nach Kapital stößt. Dieses Umfeld wird vermutlich die nächsten Jahrzehnte dafür sorgen, dass wir niedrigere Zinsen haben als früher. Damit steigt die Kapazität der einzelnen Länder, einen höheren Schuldenstand zu bedienen. Die Schuldengrenze von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung, die in den Maastrichter Verträgen festgehalten ist, war damals richtig, das Limit könnte heute aber vermutlich höher sein. Wobei keiner genau sagen, was die genaue Grenze ist.
Im Hintergrund sehe ich die Umzugskisten. Das ist Ihre letzte Arbeitswoche. Irritiert Sie das Geschacher um Ihre Nachfolge? Der frühere Luxemburger Finanzminister Pierre Gramegna hat ja auch schon seinen Hut in den Ring geworfen und wieder zurückgezogen.
Ich kenne ja die europäischen Entscheidungsprozesse seit vielen Jahrzehnten und so etwas kommt nun mal bei Personalenentscheidungen relativ häufig in Europa vor. Insofern ist es nicht so überraschend. Aber lieber wäre mir natürlich gewesen, dass am Ende dieser Woche, wenn ich ausscheide, klar ist, wer mein Nachfolger wird.
Haben Sie einen Rat für Ihren Nachfolger? Was muss er für Eigenschaften mitbringen? Sollte er eher Politiker sein oder Technokrat?
Es kann ein Politiker sein oder ein Technokrat. Wichtig ist, dass man die Institution gut verwaltet, aber vor allem auch gut kommunizieren kann mit der Politik, mit Parlamenten in unseren Mitgliedstaaten, mit den Medien und vor allem mit den Finanzmärkten. Denn das war sicherlich eine entscheidende Aufgabe, die ich hatte vor zehn, zwölf Jahren, die Finanzmärkte zu überzeugen, dass wir das Richtige tun gegen die Eurokrise.
Möchten Sie etwas dazu sagen, wie es für Sie weitergeht?
Da gibt es nicht viel zu sagen. Nur, dass es weitergeht. Ich bin froh, in Zukunft etwas weniger zu arbeiten als in den vergangenen 40 Jahren. Aber ich werde sicherlich etwas tun. Aber was genau, entscheide ich nach dem Urlaub.
Werden Sie Luxemburg vermissen?
Natürlich. Ich fühle mich hier sehr wohl. Es war wirklich sehr erfreulich, wie eng wir hier mit den Luxemburger Behörden, mit der Regierung und dem Finanzministerium zusammengearbeitet haben. Und das sind alles sehr positive Erinnerungen, die ich mitnehme.