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Europa in der Krise: Der Europäische Aufbauplan und die Rolle des ESM

Speeches
ESM
Perl, Germany

Klaus Regling, ESM Geschäftsführender Direktor
 “Europa in der Krise: Der Europäische Aufbauplan und die Rolle des ESM ”
83. Europaministerkonferenz
Perl, 9 September 2020

 (Es gilt das gesprochene Wort)

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

Es war in Potsdam Anfang November 2012, als ich das letzte Mal vor Mitgliedern der Europaministerkonferenz sprach. Damals habe ich die europäische Politik zur Bewältigung der Eurokrise vorgestellt.

Zu dem Zeitpunkt liefen bereits die EFSF-Programme für Portugal, Irland und Griechenland, die ESM-Programme für Spanien und Zypern folgten. Der Tiefpunkt der Griechenland Krise lag noch vor uns und an eine Pandemie hat keiner gedacht.

I. Damals und heute: Rettungsschirme als Teil der Antwort auf die Krise

Wie Sie wissen, wurde mit der Einrichtung der beiden Rettungsfonds, des vorläufigen EFSF und des ständigen ESM, eine Lücke in der Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion geschlossen.

Der ESM war nicht Teil der ursprünglichen institutionellen Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion. Es gab keine Letztabsicherung für Länder des Euroraums, keinen sogenannten lender of last resort für Staaten. Zu Beginn der Währungsunion war es unvorstellbar, dass ein Land des Währungsraums den Zugang zum Kapitalmarkt verlieren könnte, nachdem es die Hürden zur Aufnahme in die Währungsunion überwunden hatte.

Der ESM hat sich als eine permanente Institution mit ausreichenden finanziellen Mitteln bewährt. Um die Programme zu finanzieren, begibt der ESM auf den Märkten Anleihen. Wir benutzen also nicht – wie zumindest früher oft falsch behauptet wurde – Steuergelder für unsere Kreditvergabe. In den letzten acht Jahren haben beide Rettungsfonds rund €300 Milliarden an fünf Länder ausgezahlt: Irland, Griechenland, Spanien, Zypern und Portugal.

Daraus sind fünf Erfolgsgeschichten geworden, weil die Kreditauszahlungen immer an die Umsetzung vereinbarter Reformen geknüpft waren („Konditionalität“). Dadurch haben diese Länder die Probleme, die zum Verlust des Marktzugangs geführt hatten, beseitigt und hatten in den Folgejahren eine bessere Wirtschaftsentwicklung als die anderen europäischen Länder.

Darüber hinaus profitieren diese fünf Länder über viele Jahre von Haushaltseinsparungen, weil unsere Darlehen sehr lange Laufzeiten und sehr niedrige Zinssätze haben. Der griechische Haushalt sparte im vergangenen Jahr beispielsweise rund €13 Milliarden an Schuldendienstzahlungen, was 7% der griechischen Wirtschaftsleistung entspricht.

II. Wo stehen wir heute?

Die Eurokrise ist nicht mit der aktuellen Krise zu vergleichen. Vor sechs Monaten hat der Coronavirus Europa erreicht. Wir erleben derzeit zweifellos die schwerste Wirtschaftskrise, die wir je hatten. Die Unsicherheit ist groß, und die Wirtschaftskraft im Euroraum wird frühestens 2022 wieder das Vor-Krisen Niveau erreichen.

Zwischen März und Mai ist die Wirtschaft in Europa brutal eingebrochen. Lieferketten und Produktionslinien wurden unterbrochen, der internationale Handel ging dramatisch zurück, und die Ausgaben für privaten Konsum und Investitionen schrumpften wie nie zuvor.

Nachdem die Wirtschaft im April ihren Tiefpunkt erreicht hatte, gab es ab Mai eine deutliche Erholungsphase. Viele Indikatoren erholten sich deutlich in den folgenden drei Monaten, einige erreichten sogar fast das Vor-Krisen Niveau.

Allerdings verlor die Erholung schon im August wieder an Schwung, da die Unsicherheit über die Aussichten einer zweiten Infektionswelle in einigen Euro Ländern nach wie vor hoch ist.

Investoren halten sich zurück, viele Konsumenten sparen lieber als zu konsumieren. Im Euroraum wird die Sparquote dieses Jahr auf 19% geschätzt, letztes Jahr war sie bei rund 13%. Für Deutschland soll die Sparquote bei fast 25% liegen dieses Jahr, nach knapp 19% in 2019. Ich erwarte aber, dass diese Schätzungen noch nach oben korrigiert werden. Diese Veränderung im Sparverhalten ist angesichts der Unsicherheiten individuell verständlich ist, gesamtwirtschaftlich aber problematisch.

Die Pandemie hat sich in den einzelnen Mitgliedsstaaten unterschiedlich ausgewirkt, was die Gefahr wachsender wirtschaftlicher Unterschiede zwischen den Ländern erhöht. Deshalb war es wichtig, dass auf europäischer Ebene Maßnahmen ergriffen wurden, die Verzerrungen im EU-Binnenmarkt und Divergenz in der Währungsunion verhindern.

III. Europa‘s gemeinsame Antwort auf die Pandemie

Im Frühjahr reagierte Europa rasch auf die Pandemie mit einer Reihe politischer Maßnahmen, die darauf ausgerichtet waren, den am stärksten betroffenen Ländern zu helfen, und die auch beruhigend auf die Märkte gewirkt haben.

Um die wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 abzuschwächen, einigten sich die Euro-Finanzminister Anfang April auf drei Sicherheitsnetze in Höhe von insgesamt €540 Milliarden. Jedes der drei Sicherheitsnetze erfüllt einen anderen Zweck:

Das Pandemie-Instrument des ESM unterstützt Staaten bei der Deckung direkter und indirekter Kosten im Gesundheitswesen. SURE ist das Sicherheitsnetz der EU Kommission für Arbeitnehmer, während mit dem neuen Garantiefonds der Europäischen Investitionsbank Unternehmens- Investitionen finanziert werden können.

Gleichzeitig haben die geldpolitischen Maßnahmen der Europäischen Zentralbank, und insbesondere die Ankündigung des neuen Pandemie-Notfallankaufprogramms, die Finanzmärkte stabilisiert.

Im Juli wurde der €750 Milliarden schwere Aufbauplan "Next Generation EU" verabschiedet. Zur Finanzierung wird die Kommission im Namen der EU Anleihen auf den internationalen Finanzmärkten begeben. Die Mittel können bis zu €360 Milliarden für Darlehen und bis zu €390 Milliarden für Zuschüsse erreichen. Diese zusätzlichen Mittel werden über EU-Programme geleitet und über einen langen Zeitraum aus künftigen EU-Haushalten zurückgezahlt – nicht vor 2028 und nicht nach 2058.

Um die Widerstandsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der Länder zu stärken, wird die Unterstützung aus dem Aufbaufonds von Reformen begleitet, indem er mit dem Europäischen Semester zur wirtschaftspolitischen Koordinierung verknüpft wird. Die Kommission vergibt Kredite und Zuschüsse im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität an die EU-Länder, die damit ihre Reform- und Resilienzpläne gemäß den im Europäischen Semester festgelegten Zielen finanzieren.

Zusätzlich zu den Maßnahmen auf EU-Ebene reagierten die Euro Länder mit sehr umfangreichen nationalen fiskalpolitischen Maßnahmen. Alle Länder des Euroraums unterstützten ihre Wirtschaft durch diskretionäre fiskalpolitische Maßnahmen, Garantien und Liquiditätshilfen und Stundungen für Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Insgesamt belaufen sich diese Maßnahmen für den Euroraum auf mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts (BIP), für Deutschland sogar auf über 40%.

Die automatischen Stabilisatoren betragen dabei gut 5% des BIPs. Das Haushaltsdefizit für die EU insgesamt wird für dieses Jahr auf rund 10% des BIPs geschätzt, für nächstes Jahr auf rund 5%, aber das hängt natürlich entscheidend von dem weiteren Verlauf der Pandemie ab, von der Stärke des Wirtschaftsaufschwungs im nächsten Jahr und inwieweit dann die Staatsgarantien in Anspruch genommen werden. In den USA wird übrigens dieses Jahr ein Haushaltsdefizit von 20% des BIPs erwartet, nächstes Jahr von 10%.

IV. Herausforderungen für die Zukunft

Die aktuelle Krise ist sehr schmerzhaft, aber sie hat das Potenzial, den Strukturwandel in unserer Wirtschaft und die europäische Integration zu beschleunigen. Wie der ehemalige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble kürzlich sagte: „Wenn diese Krise nicht groß genug ist, um die Integration voranzubringen, welche dann?“

Reformen in den Mitgliedsstaaten werden in den nächsten Jahren besonders wichtig sein. Denn ich sehe vier Problembereiche, die das künftige Wachstum negativ beeinflussen könnten:

Erstens wird das Potentialwachstum, d.h. die mögliche Wachstumsrate einer Volkswirtschaft bei voller Kapazitätsauslastung und voller Beschäftigung, in Zukunft mit großer Wahrscheinlichkeit niedriger sein als vor der Krise. Die Pandemie vernichtet Kapital – auch Humankapital, sie veranlasst Unternehmen angesichts des hohen Maßes an Unsicherheit weniger zu investieren und hat zu wesentlich höheren privaten Ersparnissen geführt, was die gesamtwirtschaftliche Nachfrage reduziert.

Zweitens bedeutet der Zusammenbruch des Welthandels weniger Wettbewerb und damit geringere Produktivitätsgewinne. Der Einbruch des Welthandels kommt zusätzlich zum schon vor der Pandemie sichtbaren Trend der De-Globalisierung, die auch das Potentialwachstum dämpft.

Drittens macht mir das Bankensystem Sorgen. Banken machen weiterhin zu geringe Gewinne, es gibt zu viele Filialen (overbanking) und es wird wegen des Wirtschaftseinbruchs auch wieder einen Anstieg notleidender Kredite geben. All das kann die Kreditversorgung der Wirtschaft beinträchtigen. Dies wiederum reduziert das Wachstum.

Viertens können höhere öffentliche Schulden, die jetzt unabdingbar sind, langfristig das Wachstum negativ beeinflussen. Die Rückkehr zu tragbaren Defiziten wird nicht einfach werden.

Angesichts dieser Herausforderungen halte ich es für ganz wichtig, dass sich die EU in der Zukunft auf die Stärkung von Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit konzentriert, und gleichzeitig eine grüne und digitale Wirtschaft fördert. Was wir brauchen, ist ein „stärkeres, innovativeres, zukunftsfähigeres Europa“ laut Schäuble.

V. Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion bleibt auf der Tagesordnung

Dazu gehört im Sinne von Schäuble auch die weitere Vertiefung unserer Währungsunion. Es ist richtig, dass sich die EU jetzt auf die Bekämpfung der Pandemie konzentriert. Aber die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion sollten wir auch in Zeiten der aktuellen Krise nicht aus den Augen verlieren – dies hilft uns, für künftige Krisen noch besser gewappnet zu sein.

Die Agenda beinhaltet folgende Punkte:

(i) Abschluss der ESM-Reform, um die finanzielle Stabilität in der Euro-Zone zu gewährleisten, (ii) Vollendung der Bankenunion mit einem backstop und einer gemeinsamen Einlagensicherung, (iii) die Schaffung einer Kapitalmarktunion, um alle 27 nationalen Finanzmärkte zu harmonisieren, (iv) die Schaffung einer fiskalischen Kapazität zur makroökonomischen Stabilisierung, um wirtschaftliche Abschwünge abzufedern, und (v) Erhöhung des Volumens von safe euro assets zur Verbesserung es monetären Transmissionsmechanismus im Euroraum und zur Stärkung der internationalen Rolle des Euros.

Ein wichtiges Element der ESM-Reform ist die Letztsicherung für den einheitlichen Abwicklungsfonds (backstop). Die Letztsicherung für den Abwicklungsfonds würde – zusammen mit einer gemeinsamen Einlagensicherung – die Bankenunion vervollständigen.

Fortschritte bei der Kapitalmarktunion würden grenzüberschreitende Investitionen erleichtern und neue Wege zur Finanzierung von Unternehmen eröffnen. All dies würde die Kapitalallokation in der Wirtschafts- und Währungsunion verbessern, das Wachstumspotential erhöhen und den Euro für internationale Investoren attraktiver machen.

Zudem wäre eine fiskalische Kapazität zur makroökonomischen Stabilisierung im Euroraum sehr nützlich, weil die Länder einer Währungsunion zwei wichtige makroökonomische Politikinstrumente aufgegeben haben: die Geldpolitik und die Wechselkurspolitik. Das kann den Einsatz des verbleibenden makroökonomischen Instruments, der Fiskalpolitik, häufiger erfordern als früher. Der ESM könnte eine solche Fazilität zu seinem Instrumentarium hinzufügen. Dies würde es den Ländern erlauben, ihre nationalen fiskalischen Puffer zu erweitern und ihnen dadurch in einer Krise mehr fiskalischen Spielraum geben.

Zudem wird die Notwendigkeit eines europäischen safe assets in dieser Krise zunehmend erkannt. Die EU Maßnahmen, von denen ich anfangs sprach, können das Volumen der von der Europäischen Kommission, der Europäischen Investitionsbank und dem ESM emittierten europäischen Schulden von heute €800 Milliarden auf fast €2 Billionen anheben. Zusammen mit den Staatsschulden der top-gerateten Euro-Mitgliedsstaaten, würden die Euro safe assets dann rund 40% des BIPs aller Euro Länder betragen – die USA haben 90%.

VI. Wo ist der Exit?

Als ich am vergangenen Wochenende in Italien auf einer Tagung war, wurde ich nach der „Exit Strategie“ aus der gegenwärtigen Haushaltspolitik gefragt. Nächstes Jahr müssen wir über den Zeitpunkt nachdenken, ab wann wir zu den EU Fiskalregel zurückkehren. Eine verfrühte Rückkehr zu den Regeln könnte eine erneute Rezession auslösen, wie EU Kommissar Paolo Gentiloni auf derselben Tagung erwähnte. Eine zu späte Rückkehr könnte für einige Staaten zur Überschuldung führen.

Gleichzeitig sollten wir uns mit der Frage beschäftigen, ob die alten Regeln zur neuen Realität passen. Der Stabilitäts- und Wachstums Pakt muss reformiert werden, um wieder glaubwürdiger zu werden. Einfachere und wirksamere Regeln würden dazu beitragen, politische Entscheidungen und Marktmeinungen zu stabilisieren und zu lenken. Investoren haben wenig Vertrauen in den derzeitigen Rahmen mit seinen vielen Ausnahmen.

Der andere Grund, warum eine Reform notwendig ist, liegt darin, dass eine der Schlüsselvariablen zur Bewertung der Finanzpolitik geschätzt werden muss. Dazu müssen die Produktionslücke (die Differenz zwischen der möglichen und der tatsächlichen Produktion) und die potenzielle Wachstumsrate, also die mögliche Wachstumsrate einer Volkswirtschaft bei voller Kapazitätsauslastung und voller Beschäftigung, jedes Euro Landes geschätzt werden.

Wir sollten daher die aktuelle Situation – mit der Aussetzung der EU-Regeln für Haushaltsdefizite in 2020 und voraussichtlich auch 2021 – nutzen, um uns auf einen verbesserten, einfacheren und glaubwürdigeren Rahmen für die haushaltspolitische Überwachung zu einigen.

Lassen Sie mich hier abschließen. Ich freue mich nun auf einen regen Austausch mit Ihnen. Herzlichen Dank.

Quellen:

Europäische Kommission (2020), Den Europäischen Aufbauplan finanzieren

ESM (2020), Financial Assistance

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (03.09.2020), „Europa muss die Krise nutzen“, Interview mit Wolfgang Schäuble.

Landtag Nordrhein-Westphalen (2012), Abschlussprotokoll - Ausschuss für Europa und Eine Welt

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