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Pierre Gramegna und Kalin Anev Janse im Interview mit Börsen-Zeitung

Interviews
Pierre Gramegna and Kalin Anev Janse

Interview mit Pierre Gramegna, ESM Geschäftsführender Direktor, und Kalin Anev Janse, Finanzvorstand von ESM
Börsen-Zeitung
Durchführung am 1. Juli 2023
Interviewer: Kai Johannsen
Originalsprache: Englisch

 

Börsen-Zeitung: Herr Gramegna und Herr Anev Janse, wie definieren Sie aus Sicht des Europäischen Stabilitätsmechanismus Transition und Transition Finance zu einer grüneren und nachhaltigen Welt?

Pierre Gramegna: Transition kann im Allgemeinen als die Umstellung wirtschaftlicher Aktivitäten oder Einheiten auf Klimaneutralität und Nachhaltigkeit verstanden werden. Es scheint noch keinen Konsens über die Definition von Übergangsfinanzierung zu geben, aber die OECD-Überprüfung von Ansätzen zur Übergangsfinanzierung aus dem Jahr 2021 gibt einen Hinweis auf das allgemeine Verständnis davon. Nach dieser Definition bezieht sie sich auf die Finanzierung von Aktivitäten oder Einrichtungen, die einen solchen Übergang anstreben und folgende Merkmale aufweisen: Sie haben einen hohen Kohlenstoffausstoß, haben derzeit möglicherweise keinen Zugang zu nachhaltigeren Alternativen und sind für die künftige sozioökonomische Entwicklung von zentraler Bedeutung. Daher ist die Übergangsfinanzierung der Schlüssel zur Unterstützung eines rechtzeitigen und geordneten Übergangs zu nachhaltigeren Volkswirtschaften. Die grüne Finanzierung hingegen konzentriert sich ausschließlich auf ökologisch nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten. Übergangsfinanzierung und grüne Finanzierung sind unabhängig voneinander, aber eng miteinander verknüpft, da beide für einen erfolgreichen Übergang erforderlich sind. 

Was sind für Sie die größten Herausforderungen auf diesem Weg?

Pierre Gramegna: Die Länder der Europäischen Union sind gesetzlich verpflichtet, ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 % zu senken und bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen. Dies ist eine Form der Solidarität, d.h. der Solidarität mit künftigen Generationen. Zweifellos ist die Umsetzung dieser Verpflichtung komplex und bringt viele Herausforderungen mit sich. Aber sie ist da, und sie ist in der Gesetzgebung verankert. Betrachtet man jedoch die globale Ebene, so sehe ich die Gefahr eines unzureichenden Ehrgeizes und der Selbstgefälligkeit als große Herausforderung an. Das Ziel des Pariser Abkommens ist es, die globale Erwärmung auf 2°C über dem vorindustriellen Niveau und vorzugsweise auf 1,5°C zu begrenzen. Dem jüngsten Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen zufolge lag die globale Oberflächentemperatur im Zeitraum 2010-2020 um 1,1 °C über dem vorindustriellen Niveau. Die Weltorganisation für Meteorologie schätzte kürzlich die Wahrscheinlichkeit, dass die Schwelle von 1,5 °C in mindestens einem Jahr bis 2027 überschritten wird, auf 66 %. Seit 2015, als sie fast bei Null lag, ist die Wahrscheinlichkeit einer vorübergehenden Überschreitung von 1,5 °C stetig gestiegen. Im Bericht der Vereinten Nationen über die Emissionslücke 2022 wurde hervorgehoben, dass es derzeit keinen glaubwürdigen Weg gibt, um die 1,5°C zu erreichen. Bei der derzeitigen Politik werden die globalen Temperaturen bis zum Ende dieses Jahrhunderts schätzungsweise um 2,8°C steigen. Das ist eindeutig zu wenig. Die Gefahr, dass irgendwann ein Kipppunkt überschritten wird, der unserem Planeten und der Menschheit großen und wahrscheinlich irreversiblen Schaden zufügt, nimmt zu.

Wie gehen Sie diese Herausforderungen an, und welchen Zeithorizont haben Sie sich dafür zugrunde gelegt?

Kalin Anev Janse: Eine der strategischen Prioritäten des ESM ist die Integration von ESG- und Klimawandelüberlegungen in alle unsere Aktivitäten. Angesichts des Horizonts des Klimawandels erwarten wir, dass wir diese strategische Priorität in den kommenden Jahren beibehalten werden. Ein wichtiger Hebel ist unser Investitionsportfolio. Der ESM verfügt über ein eingezahltes Kapital von über 80 Mrd Euro, das höchste aller internationalen Organisationen. Unsere Investitionen erfolgen hauptsächlich in Anleihen. Schon bald nach seiner Gründung begann der ESM, einen Teil seines Kapitals in grüne Anleihen zu investieren. Im Laufe der Zeit hat er sein Spektrum auf Sozial- und Nachhaltigkeitsanleihen ausgeweitet.  Im Jahr 2020 unterzeichnete der ESM die von den Vereinten Nationen unterstützten Principles for Responsible Investment (UN PRI). Seitdem konzentriert er sich auf die Umsetzung eines emittentenbasierten ESG-Bewertungsansatzes für seine eingezahlten Kapitalanlagen. Im Jahr 2022 wählte der ESM außerdem einen Anbieter von ESG-Daten und Ratings aus. Um seinen eigenen Ansatz für verantwortungsbewusste Investitionen zu definieren, untersucht der ESM die ESG-Auswirkungen der Gesamttätigkeit jedes Emittenten, indem er externe ESG-Rating-Scores verwendet.

Welche Herausforderungen bzw. Probleme lassen sich auf kurze Sicht womöglich erstmal nicht oder nur sehr schwer lösen?

Pierre Gramegna: Die Finanzierungslücke ist ein großes Problem. Während sich der Finanzierungsbedarf bis 2050 jährlich auf Billionen von Euro beläuft, ist heute nur ein Bruchteil davon verfügbar. Die Bepreisung von Kohlenstoff ist in dieser Hinsicht ein wesentlicher Faktor. Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass der durchschnittliche Preis für Kohlenstoff bis 2030 auf durchschnittlich 75 Dollar pro Tonne steigen muss, um die globale Erwärmung zu begrenzen. Nach Angaben des IWF lag der weltweite Durchschnittspreis 2022 bei rund 6 Dollar pro Tonne. Auch der Erfassungsbereich muss ausgeweitet werden. Im Jahr 2022 waren nur 30 % der Emissionen durch Kohlenstoffsteuern und Emissionshandelssysteme abgedeckt. Aber der öffentliche Sektor kann nicht alles tun. Es müssen mehr private Finanzmittel eingesetzt werden, was die Schaffung der richtigen Anreize erfordert. Außerdem müssen der öffentliche und der private Sektor Hand in Hand arbeiten. Eine weitere große Herausforderung besteht darin, dass die Länder global handeln müssen - es gibt nur eine Atmosphäre. Stellen Sie sich vor, die Welt bestünde aus zwei Ländern. Wenn Land A seinen Beitrag leistet und Land B nicht, sind die Bemühungen von Land A letztlich sinnlos. Das ist das Trittbrettfahrerproblem.

Was sind für Sie die größten Chancen bei diesem Transitionsprozess?

Kalin Anev Janse: Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen eröffnen Chancen. Sie sind die Kehrseite der Risiken. Die im Juni 2017 veröffentlichten Empfehlungen der „Task Force on Climate-related Financial Disclosures“ listen eine Reihe solcher Chancen auf. Investitionen in den grünen Wandel werden Europas Klimaresilienz stärken und neue Innovationspfade eröffnen. Der Übergang ist eine Chance, neue grüne Technologien, Produkte, Dienstleistungen und Märkte zu entwickeln. Wenn sich beispielsweise die Präferenzen der Verbraucher von Investitionen in umweltverschmutzende Unternehmen abwenden, besteht die Möglichkeit, nachhaltigere Produkte zu entwickeln. Dies kann einen positiven Kreislauf in Gang setzen.

Wo liegen die größten Risiken?

Pierre Gramegna: Das größte Risiko ist letztlich Untätigkeit oder unzureichendes Handeln. Wie kommt das zustande? Es gibt physische Risiken. Das sind Risiken im Zusammenhang mit extremen Wetterereignissen, die mit dem Klimawandel zusammenhängen. Sie treten direkt vor unseren Augen auf, wie Stürme, Überschwemmungen, Hitzewellen und Waldbrände. Nach Angaben der Weltorganisation für Meteorologie haben die menschlichen und materiellen Kosten im Zusammenhang mit Klimakatastrophen im Zeitraum von 1970 bis 2021 erheblich zugenommen. In diesem Zeitraum starben zwei Millionen Menschen, und die wirtschaftlichen Verluste beliefen sich auf 4,3 Bill. US-Dollar. Die registrierten wirtschaftlichen Verluste sind in den vorigen zehn Jahren drastisch gestiegen. Je weniger heute getan wird, desto mehr Anstrengungen werden in Zukunft nötig sein. Die NGFS stellte mehrere Klimaszenarien vor, in denen die Auswirkungen des Klimawandels und der Klimapolitik untersucht wurden. Wenn wir an der gegenwärtigen Politik festhalten, werden wir in einem Szenario mit "heißem Haus" landen. In einem solchen Szenario werden die physischen Risiken weiter zunehmen und irreversible Schäden verursachen. Langfristig besteht die Gefahr, dass künftigen Generationen ein unbewohnbarer Planet hinterlassen wird.

Welche Vermögenswerte / Assets werden Ihrer Meinung nach am stärksten von dem Transition-Prozess profitieren?

Kalin Anev Janse: Die einfache Antwort lautet: alle Vermögenswerte/Finanzinstrumente, die glaubwürdig sind und die den Übergang am besten unterstützen. Vor diesem Hintergrund spielen eine umfassendere Regulierung und eine verstärkte Kontrolle eine wichtige Rolle. Ich sehe einen Wandel in der Branche. Nachhaltige Anleihen verzeichneten bis 2021 ein schnelles Wachstum und sind dann 2022 aufgrund der schnellen Neubewertung der Anleiherenditen und der Volatilität der Kreditspreads wieder etwas zurückgegangen. Vermögensverwalter und Investoren verfolgen häufiger einen ganzheitlichen ESG-Ansatz als einen reinen Green-Bond-Ansatz. Der ESM kauft ertragsabhängige Anleihen, zu denen alle Anleihen gehören, die die eingenommenen Mittel für bestimmte Projekte vorsehen, sei es für soziale oder grüne Projekte oder für eine Mischung aus beidem - so genannte Nachhaltigkeitsanleihen. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Umstellung. Aber der ESM hat sie auf die nächste Stufe gehoben. Unsere Emittenten werden nach ESG-Kriterien bewertet. Wenn wir uns mit Emittenten treffen, besprechen wir nicht nur ihr - oft begrenztes - Programm für grüne Anleihen. Wir wollen verstehen, ob und wie sich das gesamte Unternehmen in die richtige Richtung bewegt. Diese Art von Gesprächen werden wir in Zukunft häufiger führen.

Welche Vermögenswerte/Assets werden nicht profitieren und zu sogenannten Stranded Assets werden?

Kalin Anev Janse. Die anfälligsten Vermögenswerte/Finanzinstrumente sind diejenigen, die mit Branchen und Unternehmen verbunden sind, die nicht zum Übergang beitragen werden, oder diejenigen, die dies behaupten, es aber nicht tun. Glaubwürdige und detaillierte Offenlegungen und Stresstests sind sehr wichtig, um diesbezügliche Signale zu senden. Eine solche Transparenz wird den Anlegern bei ihrer Entscheidungsfindung helfen. Sie wird ihnen helfen, die Auswirkungen auf die Zeithorizonte für Investitionen und die Risiken, dass Vermögenswerte verloren gehen, zu bewerten. Die EU macht große Fortschritte, wie die laufenden Bemühungen um Berichtsstandards und -anforderungen zeigen. Das Risiko, das mit gestrandeten Vermögenswerten verbunden ist, sollte ebenfalls in die Ratings einfließen. Wir sehen in dieser Hinsicht eine positive Entwicklung. Alle großen Rating-Agenturen haben in ihren Rating-Berichten nun einen Abschnitt über die ESG-Risiken einer Institution. Die Verknüpfung mit dem endgültigen Kreditrating muss jedoch noch weiter ausgebaut werden. Insgesamt konzentrieren sich die Risikoabteilungen immer noch mehr auf Kreditrisikobewertungen als auf ESG-Ratings. Das muss sich ändern. Studien haben gezeigt, dass die Ratings verschiedener Rating-Agenturen für "traditionelle" Kreditrisiken sehr stark korrelieren. Bei ESG-Ratings sind die Korrelationen zwischen den Rating-Agenturen jedoch recht schwach. Dies erfordert, dass sich die Anleger mit verschiedenen Methoden vertraut machen, was sehr zeitaufwendig ist. 

Welche neuen Finanzierungsformen/Finanzierungsinstrumente brauchen wir, um den Transition-Prozesse zu realisieren?

Kalin Anev Janse: Generell denke ich, dass die Zusammenarbeit und die Synergien zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor der Schlüssel für die Ausweitung der Finanzierung sein werden.

Was ist Ihr größter Wunsch in Sachen Transition zu einer grüneren und nachhaltigen Welt?

Pierre Gramegna: Mein größter Wunsch ist natürlich, dass es uns gemeinsam gelingt, den Klimawandel in Schach zu halten. Und ich hoffe, dass dies noch in geordneten Bahnen verlaufen wird. Wir sitzen in einem Auto mit Verbrennungsmotor, das auf eine Mauer zurast. Eine sehr kleine Minderheit glaubt nicht, dass die Wand überhaupt da ist. Die Mehrheit ist davon überzeugt, aber einige meinen, die Mauer sei so weit weg, dass wir nicht jetzt bremsen müssen. Oder einige argumentieren, dass die Geschwindigkeit, mit der wir uns auf die Mauer zubewegen, langsamer ist als angenommen. Aber die Zeit ist von entscheidender Bedeutung. Die Wissenschaft ist dazu da, uns zu warnen. Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es, das Auto zum Stehen zu bringen. Und wenn die Mauer erst einmal in Sichtweite ist, wird es zu spät sein. Aber ich bleibe optimistisch, dass die heutigen Generationen rechtzeitig auf die Bremse treten werden. Wir haben keine andere Wahl.

Kalin Anev Janse: In meinem Twitter-Handle sage ich: "Ein grüneres Europa aufbauen, auf das meine Kinder stolz sein können". Es ist die Aufgabe unserer Generation, die Probleme der Vergangenheit zu lösen und eine grünere und nachhaltigere Welt für die Zukunft zu schaffen. Ich bin stolz auf die Generation meiner Eltern, die das größte friedensstiftende Projekt der Geschichte aufgebaut hat: die Europäische Union. Mein größter Wunsch ist es, dass meine Kinder eines Tages sagen: "Ja, Papa - deine Generation hat es geschafft, eine echte Klimakrise abzuwenden und eine nachhaltige Welt für unsere Kinder zu schaffen". Das wäre mein Wunsch.


 

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