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Interview mit Klaus Regling mit der Neuen Zürcher Zeitung

ESM

Interview mit Klaus Regling, ESM Geschäftsführender Direktor mit der Neuen Zürcher Zeitung
Interview durchgeführt am 1. November 2019
Erscheinungstag: 6. November 2019
Interviewers: Thomas Fuster, Christoph Eisenring
Originalsprache: Deutsch

 
Neue Zürcher Zeitung: Herr Regling, ist die Europäische Währungsunion eine Schönwetterkonstruktion?
 
Klaus Regling: Nein. Der Euroraum ist trotz Krise zusammengeblieben. Kein Land trat aus. Das ist gut so, sonst hätte sich der Charakter der Union tiefgreifend verändert. Die Staaten, die Marktzugang verloren hatten, haben hart gearbeitet, um an den Markt zurückzukehren.
 
Dennoch scheinen die Meinungsdifferenzen zwischen dem Norden und Süden, wie die Finanz- und Geldpolitik aussehen sollte, kaum überbrückbar.
 
Ich sehe das anders. Schauen Sie auf Portugal. Das Land verlor in der Krise den Marktzugang und erhielt von uns einen Kredit über 26 Mrd. €. Das Land nahm harte Anpassungsmassnahmen vor mit Kürzung von Einkommen und Pensionen. Heute hat Portugal fast einen ausgeglichenen Haushalt, ein gutes Wachstum und eine Arbeitslosigkeit, die niedriger ist als vor der Krise.
 
Portugal ist die positive Ausnahme.
 
Es ist nicht das einzige positive Beispiel aus dem Süden. Schauen Sie nach Griechenland. Dort sehen wir wieder Wachstum. Seit drei Jahren sehen wir auch einen Überschuss im Gesamthaushalt. Die Arbeitslosenquote ist mehr als zehn Prozentpunkte niedriger als zum Höhepunkt der Krise Ende 2013. Die Bevölkerung hat sogar eine populistische Regierung abgewählt und eine reformorientierte Regierung gewählt.
 
Und was ist mit Italien?
 
Italien ist ein Sonderfall. Es war nie wirklich in der Krise und verlor nie den Marktzugang. Das Land hat einen Leistungsbilanzüberschuss. Dies bedeutet, es braucht kein ausländisches Kapital, um das Defizit zu finanzieren. Italien ist auch deshalb ein Sonderfall, weil es seit 20 Jahren nicht einmal halb so schnell wie der Euroraum wächst. Entsprechend schwierig ist es, den Schuldenstand abzubauen. Deswegen kann man aber nicht sagen, Südeuropa stehe schlecht da.
 
Italien zeigt aber, dass sich die Euro-Staaten bei der Finanzpolitik nicht reinreden lassen.
 
Das stimmt nicht. Es gibt Vereinbarungen, wie man die Haushaltpolitik im Euroraum koordiniert. Aber natürlich bleibt die Finanzpolitik ein wichtiger Teil nationaler Souveränität. Mit dieser Spannung leben wir. Wir sind nicht die Vereinigten Staaten von Europa. Zentralisiert ist die Geldpolitik, nicht aber die Fiskalpolitik. Das kann funktionieren, aber man muss koordinieren. Diese Koordination klappt nicht immer hundertprozentig, aber sie klappt einigermassen. Im vergangenen Jahr hatte der Euroraum ein Haushaltdefizit von 0,5% des BIP, die USA eines von rund 6%. Kommt es zu einer Krise, kann der Euroraum finanzpolitisch reagieren.
 
Die stabilitätspolitischen Vorstellungen liegen im Euroraum also nicht so weit auseinander?
 
Gewiss, es gibt unterschiedliche Philosophien, und diese haben sich nicht angenähert, wie ich das einst erwartet hatte. Doch die Koordination mit dem Stabilitätspakt zeigt Erfolge.
 
Dieser Pakt wirkt aber zahnlos. Es gab noch nie Sanktionen wegen einer Verletzung des Paktes.
 
Ob Sanktionen verhängt wurden, kann nicht der Massstab sein, ob etwas funktioniert. Es gibt ja auch Sanktionen im Strassenverkehr, wenn man zu schnell fährt. Nur weil jemand noch nie eine Buße erhalten hat, kann man nicht sagen, die Sanktionen würden sein Verhalten im Strassenverkehr nicht beeinflussen.
 
Doch der Pakt strotzt von Ausnahmeregeln. Stets findet sich eine Regel für den Verzicht auf Sanktionen.
 
Das ist in der Tat ein Problem. Mit der Zeit kamen immer mehr Ausnahmen dazu. Aber man muss bedenken, dass diese Ausnahmen von den Mitgliedstaaten beschlossen wurden, nicht von der Europäischen Kommission. Das führt zu Unübersichtlichkeit. Oft ist schwer nachvollziehbar, wie eine Entscheidung zustande kommt. Es braucht wieder einfachere Regeln.
 
In der deutschen Öffentlichkeit wird die Geldpolitik der EZB sehr emotional debattiert.
 
Das ist richtig. Der Europäischen Zentralbank (EZB) wurde schon unter Jean-Claude Trichet, dem Vorgänger von Mario Draghi, vorgeworfen, die Geldpolitik führe zu Hyperinflation und gigantischen Verlusten aufgrund des Aufkaufs griechischer Anleihen. Mir persönlich wurde unterstellt, die Arbeit der Rettungsschirme EFSF und ESM habe riesige Belastungen für die Steuerzahler zur Folge. Das waren Schwarzmalereien.
 
Die Kritik zielt aber auch darauf, dass das Regelwerk stark strapaziert oder gar verletzt wurde. Etwa bei der Nichtbeistandsklausel.
 
Die Klausel wurde nie verletzt. Das belegen fünf Urteile des Deutschen Bundesverfassungsgerichtes und drei Urteile des Europäischen Gerichtshofes. Wie gesagt, in Deutschland wurde während der Krise exzessive Kritik geäussert. Man hat den Teufel an die Wand gemalt: Hyperinflation, Rechtsbrechung, riesige Verluste. Dadurch haben diese Fundamentalkritiker an Glaubwürdigkeit verloren.
 
Brüssel strebt für den Euro eine stärkere internationale Rolle an. Sehen Sie eine Wirkung?
 
Der Euro ist die zweitwichtigste Währung im internationalen Währungssystem. Seine Bedeutung steigt. Das ist aber ein gradueller und langsamer Prozess, der früher eingesetzt hätte, wenn wir die Euro-Krise nicht gehabt hätten. Doch das Interesse am Euro nimmt zu. Ich stelle das fest, wenn ich Anleihen des ESM international platziere.
 
Was ist der Grund?
 
Ein Grund ist die US-Regierung und deren Opposition zum Multilateralismus. Das beeinflusst die Zentralbanken und Handeltreibenden im Rest der Welt, etwa in Asien. Oder denken Sie an die Iran-Sanktionen, bei denen die USA versuchen, extraterritorial ihr Rechtsdenken durchzusetzen. Darunter leiden auch europäische Exporteure. Es gibt gute Gründe, die internationale Rolle des Euro zu stärken.
 
Aber die Dominanz des Dollar kann der Euro nicht brechen.
 
Das war auch nie das Ziel. Selbst die internationale Rolle des Euro war lange Zeit kaum ein Thema für die EZB oder die Regierungen. Das hat sich unter dem Eindruck der neuen amerikanischen Haltung geändert. Es ist positiv, wenn wir uns stärker zu einem multipolaren Währungssystem bewegen. Das passiert aber nicht von einem Jahr aufs andere.
 
Apropos Multipolarität. Gibt es zwischen den Wirtschaftsblöcken einen neuen Systemwettbewerb? Und braucht Europa mehr Zentralismus, um bestehen zu können?
 
Wir beobachten heute – deutlicher als vor fünf Jahren – einen Systemwettbewerb zwischen den USA und China. Das zeigt sich in der Handelspolitik, aber auch im Technologiebereich. Manche fühlen sich an den Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion erinnert. Europa muss aufpassen, dass es seinen Platz findet und nicht zwischen den Grossmächten zerrieben wird. Es muss mehr zusammenarbeiten.
 
Was braucht es, um die Währungsunion krisensicherer zu machen?
 
Erst einmal muss man feststellen, dass der Euroraum stabiler geworden ist. Es gibt heute keine massiven makroökonomischen Ungleichgewichte in irgendeinem Land der Währungsunion. Vor zehn Jahren hatten wir ein halbes Dutzend Staaten mit Haushalts- und Leistungsbilanzdefiziten von über 10% des Bruttoinlandsproduktes (BIP).
 
Eine hohe Verschuldung sehen Sie nicht als ein Problem?
 
Mit einer hohen Verschuldung kann man eine gewisse Zeit leben. Dies führt nicht sofort zu einer Krise. Aber ein Haushaltsdefizit von 15% am BIP, wie es Griechenland hatte, ist äusserst gefährlich.
 
Worauf führen Sie die Stabilisierung zurück?
 
Wir haben eine Bankenunion geschaffen, mit einer europäischen Aufsicht für die fast 120 systemisch wichtigsten Banken. Das Kapital der Banken ist heute doppelt so hoch wie vor zehn Jahren, das sind fast 500 Mrd. € mehr. Und wir haben den Euro-Rettungsschirm ESM kreiert.
 
Aber die italienischen Banken bleiben ein Sorgenkind.
 
Auch die italienischen Banken erfüllen alle Kapitalanforderungen. Sie müssen aber weiter ihre notleidenden Kredite abbauen. Zwei Drittel sind erledigt, ein Drittel fehlt noch.
 
Braucht es eine europäische Einlagensicherung?
 
Sie gehört zur Vertiefung der Währungsunion dazu, wird aber nur kommen, wenn man die notleidenden Kredite weiter reduziert.
 
Welche weiteren Schritte sind nötig?
 
Zentral ist ein einheitlicher Finanz- und Kapitalmarkt. Dazu braucht es viele Dinge, die schwierig umzusetzen sind, etwa die Angleichung der Insolvenzverfahren. Viele solche Schritte sind nötig, um die Fragmentierung des europäischen Kapitalmarktes zu beseitigen.
 
Weshalb ist das so wichtig?
 
In einem europäischen Kapitalmarkt verbessert sich die Risikoteilung über die Märkte. Dies macht den Euro attraktiver für internationale Investoren.
 
Sie plädieren neben dem ESM zudem für einen Fonds, der Budgethilfen an Krisenstaaten vergeben könnte. Weshalb?
 
Zur Stabilisierung haben wir im Krisenfall derzeit nur die nationalen fiskalischen Puffer. Diese sollten ergänzt werden durch einen europäischen Fiskal-Puffer. Die Hilfen müssten über den Konjunkturzyklus zurückbezahlt werden.
 
Wie gross müsste dieser Fonds zur Stabilisierung sein?
 
Ich denke an 100 bis 200 Mrd. €.
 
Wäre ein staatlicher Insolvenzmechanismus verbunden mit der Drohung, dass ein Land aus der Währungsunion ausscheidet, wenn es zahlungsunfähig ist, keine Alternative zum ESM?
 
Beides wären massive Eingriffe in die Eigentumsrechte und in die Märkte. Zu meinen, das würde in einer Krise die Dinge einfacher machen als das, was wir jetzt aufgebaut haben, ist sehr verwegen.
 
Aber würde das nicht zu einer Disziplinierung der Staaten führen?
 
Bei Griechenland wurde der Austritt vor gut vier Jahren diskutiert. Es gab damals Schätzungen, dass die Wirtschaftskraft Griechenlands, die schon um ein Viertel geschrumpft war, nochmals um ein Viertel eingebrochen wäre. Das kann kein erstrebenswertes Ziel sein. Es hätte auch den Charakter der Währungsunion verändert. Immer dann, wenn ein Land Probleme gehabt hätte, hätten die Spekulationen massiv zugenommen.
 
Dann ist die Einführung des Euro in einem Land unumkehrbar?
 
Für ein gutes Funktionieren der Währungsunion ist diese Unumkehrbarkeit notwendig.
 
Aber Sie sehen schon das Problem, wenn sich letztlich immer ein Tresor öffnet, sobald ein Land in Schwierigkeiten gerät?
 
Deshalb gibt es auch nur Geld gegen Auflagen für die Finanz- und Wirtschaftspolitik. Diese Konditionalität ist ein massiver Eingriff in die Souveränität der Staaten.
 
Der Internationale Währungsfonds, IMF, hatte sich am dritten Programm für Griechenland nicht mehr beteiligt. Legt das nicht nahe, dass der ESM bei den Auflagen zu weich ist?
 
Im Gegenteil, die Konditionalität des IMF wäre schwächer gewesen, weil der Fonds mehr Schuldenerleichterungen geben wollte.
 
Aber Griechenland ist doch immer noch weit von tragfähigen Schulden entfernt?
 
Wir versorgen Griechenland 50 Jahre lang mit sehr günstigen Krediten. Letztlich wirken diese Erleichterungen für Griechenland wie ein Schuldenschnitt. Aber dieses Vorgehen ist innerhalb der Währungsunion eben zulässig und führt zu keinen Kosten in den anderen Mitgliedstaaten.
 
Allerdings gibt es den Vorwurf, dass man das Problem mit so langen Tilgungsfristen einfach schönrechnet.
 
Es ist kein Schönrechnen. Griechenlands Schulden sind tragfähig, weil dem Land eine massive Entlastung gewährt wird. Im letzten Jahr betrug diese Haushaltsentlastung 13 Mrd. €. Das sind 7% des BIP. Und diese Entlastung, kombiniert mit einer vernünftigen Wirtschaftspolitik, bringt das Wachstum zurück, womit die Schuldentragfähigkeit erreichbar ist. Aber es dauert einige Jahrzehnte.
 
Griechenland bezahlt derzeit für zehnjährige Staatsschulden einen Zins von nur 1,17%. Sind die Anleger schon wieder leichtsinnig?
 
Nein, es ist vielmehr ein Zeichen, dass Griechenland eine glaubwürdige Politik macht. Deshalb schwimmt Griechenland wieder mit an den Finanzmärkten.
 
Wenn ein solches Land de facto keine Risikoprämien auf seinen Staatsanleihen mehr bezahlen muss, zeigt das doch, dass die Märkte massiv verzerrt sind?
 
Es zahlt ja eine Prämie, die Zinsen sind 156 Basispunkte höher als in Deutschland.
 
Und das bildet den Risikounterschied adäquat ab?
 
Diese niedrige Prämie zeigt, dass Griechenland an den Märkten wieder als wettbewerbsfähig wahrgenommen wird.
 
Kommen wir noch kurz zu Ihrem Heimatland Deutschland. Internationale Organisationen pochen darauf, dass Deutschland mehr investiert. Wie sehen Sie das?
 
Aus deutscher Sicht halte ich es für sinnvoll, mehr zu investieren. Ich glaube aber nicht, dass das riesige Auswirkungen hat auf den Rest der Währungsunion. Kurzfristig kann außerdem gar nicht so viel gemacht werden, weil die Kapazitäten voll ausgelastet sind. Für mich ist der Fehler in den letzten Jahren gemacht worden. Man hätte kontinuierlich mehr investieren sollen, um sich auf die Zukunft vorzubereiten. Berlin kann das jetzt nicht über Nacht nachholen.
 
 
 

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