Interview mit Kalin Anev Janse mit der Börsen-Zeitung 20 Februar 2021
Interview mit Kalin Anev Janse, Finanzvorstand von ESM
Börsen-Zeitung (Deutschland)
Durchführung am 8. Februar 2021
Erscheinungsdatum: 20. Februar 2021
Interviewer: Kai Johannsen
Börsen-Zeitung: Herr Anev Janse, wir befinden uns mitten in der Covid-19-Pandemie. Welche beiden Lehren hat der ESM aus dieser Krise sowohl als Emittent als auch als Investor gezogen?
Kalin Anev Janse: Zunächst einmal, wie schnell sich der ESM und die Finanzwelt an die virtuelle Welt angepasst haben und von zu Hause aus arbeiten. Wenn Sie vor einem Jahr gesagt hätten, dass alle Handelsräume von zu Hause aus vom Küchentisch aus betrieben werden könnten, hätte Ihnen niemand geglaubt. Wir haben bewiesen, dass das Finanzsystem agil ist. Ohne größere Störungen sind wir in eine digitale Welt übergegangen: von der Emission und Investition in Anleihen von zu Hause aus bis hin zu virtuellen globalen Roadshows als Emittent. Und es geht darüber hinaus. Ich war beeindruckt, wie sich Unternehmen und Arbeitnehmer an diese neue Normalität anpassen. Sie können dies in den Konjunktur-daten für Europa im vierten Quartal 2020 sehen. Sie waren weniger negativ als erwartet und das während der Lockdowns. Das heißt, wir haben gelernt, in Pandemiezeiten weiterhin wirtschaftlich produktiv zu sein.
Was war die zweite Lektion?
Ein geeintes Europa kann mit einer schweren Krise fertig werden. Vor einem Jahrzehnt befassten wir uns mit der Finanz- und Staatsschuldenkrise, die zu einer Stärkung der EWU-Architektur führte, einschließlich der Schaffung von EFSF / ESM und wichtiger Schritte in Richtung einer Bankenunion. Im Jahr 2020 mussten wir uns mit einem neuen großen Notfall auseinandersetzen: Eine Pandemiekrise. Im März 2020 startete die EZB rasch ihr Pandemie-Notfallkaufprogramm PEPP. Innerhalb von acht Wochen wurde die erste fiskalische Reaktion von ESM, EIB und EU in Europa in Höhe von 540 Mrd. Euro verabschiedet, und in nur zweieinhalb Monaten wurde das Paket NextGenerationEU in Höhe von 750 Mrd. Euro vereinbart, um die wirtschaftliche Erholung zu unterstützen. Globale Investoren haben sofort gesehen, wie schnell Europa in Krisenzeiten handeln kann. Wir haben aus früheren Krisen ge-lernt, dass Europa am besten funktioniert, wenn wir zusammenkommen. Und ich würde gerne noch eine dritte Lektion hinzufügen.
Und die wäre?
Die dritte Lektion ist, dass die ESG-Finanzierung erheblich an Bedeutung gewonnen hat, da die Anleger sich zunehmend für die Aspekte Umwelt, Soziales und Governance interessieren. In diesem Bereich wurde emissionsseitig die Marke von 1 Billion Euro überschritten, mehr als die Hälfte sind in Euro denominiert. Im Jahr 2020 wurden sechsmal mehr Social Bonds begeben als im Vorjahr, um die Auswirkungen von Covid19 zu bekämpfen. Mehr als zwei Drittel davon lauteten auf Euro. Bei der nachhaltigen Finanzierung ist Europa einschließlich Deutschland Vorreiter.
Im Juni vorigen Jahres hat der ESM ein Rahmenwerk für soziale Anleihen eingeführt. Der ESM ist al-so zum Emittent von Social Bonds geworden. Wie haben die Anleger reagiert, und wie ist der aktuelle Stand?
Bereits vor der Einführung des Labels ‚Social Bonds’ im Rahmen des unabhängigen ICMA Social Bonds Framework im Jahr 2017 emittierten die EFSF und der ESM Anleihen mit einem sozialen Profil. Als einige Staaten vor einem Jahrzehnt nach der Finanzkrise 2008 den Marktzugang verloren hatten und niemand mehr bereit war, ihnen Geld zu leihen, wurden unsere Institutionen ins Leben gerufen, um sie zu finanzieren und ihnen zu helfen, ihre Wirtschaft zu reformieren. Wir haben ihnen attraktive, d.h. niedrige Triple-A-Verzinsungen angeboten, während auf dem Sekundärmarkt die zehnjährigen Staatsanleihen eines der Länder zeitweise zu Sätzen von mehr als 30% gehandelt wurden. Wir haben sie dabei unterstützt, finanziell nachhaltig zu werden. Die Länder waren erfolgreich, und haben ohne Ausnahme das Vertrauen des Marktes zurück gewonnen.
Was heißt das für die Anleihen Ihrer Institution?
Die EFSF- und ESM-Anleihen werden von vielen Anlegern als ESG-Anleihen angesehen. Im ver-gangenen Jahr haben wir die Pandemic Crisis Support ins Leben gerufen, um die Finanzierung der di-rekten und indirekten Gesundheitskosten der 19 Mitgliedsstaaten des Euroraums zu unterstützen. Dies kann zum Beispiel zur Finanzierung der Impfprogramme verwendet werden. Es steht bis Dezember 2022 für bis zu 2% des BIP des ersuchenden Mitgliedstaats des Euro-Währungsgebiets im Jahr 2019 zur Verfügung. Das entspricht einer Summe von 240 Mrd. Euro. Falls dies tatsächlich erreicht wird, emittieren wir Social Bonds, die entsprechend gekennzeichnet sind. Wir waren eine der ersten Institutionen überhaupt, die ein Rahmenwerk für soziale Anleihen gemäß der neuen ICMA-Standards vom Juni 2020 eingerichtet haben. Sustainalytics hat unser Rahmenwerk auch überprüft. Wir werden über die Verwendung der Anleiheerlöse berichten. Insgesamt sehen die Anleger dies alles als sehr positiv für uns als Emittent-Adresse an.
Und was sind Ihre Pläne für die Emission von Social Bonds in diesem Jahr?
Das Emissionsvolumen der Social Bonds im Zusammenhang mit dem sogenannten Pandemic Crisis Support Instrument hängt davon ab, ob die Länder eine vorsorgliche Kreditlinie beantragen und diese dann auch in Anspruch nehmen. Derzeit haben alle Länder der Eurozone Marktzugang zu niedrigen Zinssätzen. Dennoch könnte etwa die Hälfte von ihnen finanziell von der Inanspruchnahme unserer Kreditlinie profitieren. Das ESM-Instrument Pandemic Crisis Support dient somit als Versicherungsme-chanismus. Falls die Zinssätze, d.h. die Bondrenditen am Sekundärmarkt steigen, und sich die Spreads ausweiten, könnte unsere Kreditlinie für sie sehr nützlich werden. Wir könnten diesen Ländern eine Finanzierung zu Triple-A-Kreditkonditionen sichern. In unserem Refinanzierungsausblick für 2021 haben wir nur die Emissionen zur Refinanzierung der bestehenden Darlehen berücksichtigt, die auch tatsächlich schon sicher feststehen. Für den Fall, dass der Unterstützungsmechanismus für Pan-demiekrisen tatsächlich ausgelöst wird, würden wir dem Markt einen überarbeiteten Refinanzierungsplan für 2021, einschließlich der Social-Bond-Emissionen, vorlegen.
Dann lassen Sie uns einen Blick auf den Funding Outlook für 2021 werfen. Wie hoch wird das Refinanzierungsvolumen für ESM und EFSF in diesem Jahr sein, und wo stehen Sie derzeit mit Ihren Funding-Fortschritt?
Wir planen in diesem Jahr mit einem Funding-Volumen von insgesamt 24,5 Mrd. Euro, 16,5 Mrd. Euro für die EFSF und 8 Mrd. Euro für den ESM. Darin sind die Anfragen von Staaten im Rahmen des Pandemic Crisis Support verständlicherweise noch nicht enthalten. Das sind ausschließlich unsere Re-finanzierungserfordernisse aus der vorherigen Staatsschuldenkrise. Für die EFSF haben wir im Januar eine 5-Mrd.-Dual-Tranche-Transaktion und Anfang Februar eine 2-Mrd.-Euro-Transaktion durchgeführt. So haben wir bereits 42% unseres Jahresbedarfs refinanziert. Für den ESM haben wir das Refnanzierungsjahr 2021 noch nicht begonnen. Für das erste Quartal sind beim ESM 2 Mrd. EUR geplant. Die Performance unserer jüngsten Euro-Emissionen war sehr gut. Für die erste EFSF-Transaktion hatten wir ein Orderbuch von mehr als 70 Mrd. Euro. Das zeigt: Globale Investoren vertrauen auf Europa. Das wissen wir sehr wohl zu schätzen.
Wie vergleicht sich das mit 2020? Wie hoch ist das ausstehende Bond-Volumen?
Im vergangenen Jahr haben wir für 30,5 Mrd. Euro auf dem Bond-markt emittiert. Mit 24,5 Mrd. Euro ist es in diesem Jahr etwas weniger.
Wir haben Bonds für mehr als 300 Mrd. Euro auf dem Markt ausstehen, und zwar für EFSF und ESM zusammen, 199 Mrd. Euro sind es an EFSF-Anleihen und 90 Mrd. Euro bei den ESM-Anleihen. Und 27 Mrd. Euro kommen an ESM-Geldmarktpapieren hinzu. Unsere Kredite haben eine Laufzeit von bis zu 42,5 Jahren, und unsere Refinanzierung hat eine durchschnittliche Laufzeit von rund sieben Jahren. Wir werden also in den nächsten Jahrzehnten beträchtliche Refinanzierungsvolumina haben. Wichtig ist, dass die EFSF/ESM-Kapitalmarktinstrumente ein wichtiger Bestandteil der europäischen Safe Assets sind. Zusammen mit der EIB und der EU kamen wir im Jahr 2020 auf Safe Assets von rund 800 Mrd. Euro in Europa. Diese Summe wird in einigen Jahren auf fast 2 Bill. Euro anwachsen. Dies ist ein wichtiger Schritt, um die Rolle des Euro weltweit zu stärken. Wir haben gesehen, dass die Zentralbanken weltweit diese Safe Assets im Rahmen der Reservehaltung gekauft haben. Das ist ein positives Signal.
Vor fast zwei Jahren haben Sie die Entwicklung des Service-Tools EDDI für öffentliche Bond-Emittenten angekündigt. Der Plan war, dieses Jahr live zu gehen. Wo stehen Sie mit diesem Projekt, und was sind die nächsten Schritte?
Diese Idee und das Konzept entwickelt sich stetig weiter. Es liegt in der Hand der EZB hier weiter voranzugehen, sie ist sozusagen im Lead. Es gab eine öffentliche Konsultation mit vielen guten und konstruktiven Rückmeldungen von Marktteilnehmern. Um dieses Feedback zu berücksichtigen, hat die EZB 2020 die Contact Group für die Emissionen von Schuldtiteln ins Leben gerufen.
Was ist die Aufgabe dieser Gruppe?
Diese Gruppe bringt Fachleute aus dem Private und dem Public Sector zusammen, die sich mit Ver-besserungen der Aspekte Effizienz und Integration bei der Emission und Distribution von Schuldtiteln dieser Emittenten befassen. Das deckt die gesamte Transaktionskette von der Voremission bis zum Post-Trade ab. Dabei wird untersucht, wie diese Probleme angegangen und dann adressiert werden können. Wir bekommen sehr interessante Ideen präsentiert, wie der private und der öffentliche Sektor dabei kooperieren können, um für alle Beteiligten zu einer Win-Win-Situation zu gelangen. Es kann eine stärker integrierte Transaktionskette geschaffen werden, damit Global Player leichter in Europa investieren können. Und es gibt Synergien mit der Debatte über einen digitalen Euro.
Wo stehen Sie mit dem Aufbau Ihrer Zinskurve im Dollar? Was ist für 2021 geplant? Gibt es spezielle Wünsche von Anlegerseite?
Seit 2017 haben wir vier Dollar-Anleihen emittiert – jedes Jahr eine Laufzeit. Wir haben eine Zinskurve mit den Fälligkeiten 2022, 2024 und 2025 mittlerweile aufgebaut. Eine Anleihe wurde bereits 2020 fällig. Was ich am Dollar-Markt sehr schätze, ist, dass wir uns dadurch diversifizieren können. 89% der Dollar-Anleihen werden außerhalb des ESM-Inlandsmarktes – also außerhalb des Euroraums – verkauft, und 53% der Papiere erreichen globale Institutionen des öffentlichen Sektors. Die Dollar-Bonds bringen also neue Investitionen nach Europa. Für die Anleger bietet der Dollar zu-dem positive Renditen für alle Punkte auf der Zinskurve. Der ESM hat sich als strategisches Ziel gesetzt, mindestens einen Dollar-Trade pro Jahr zu bringen. Alle Dollar-Erlöse der Bonds werden zurück in Euro geswapped. Dies ist ein Vorteil für Anleger und Emittenten gleicher-maßen.
Was schätzen die Anleger an Dollartiteln?
Anleger schätzen die positive Rendite, die Möglichkeit, in einen europäischen Namen in Dollar zum Zwecke der Diversifikation investieren zu können, und sie interessieren sich für das kürzere Ende der Kurve, d.h. bis zu fünf Jahre Laufzeit. Natürlich bleibt der Euro unsere Hauptemissionswährung.
Was gibt es Neues beim ESM für 2021 zu verkünden?
Die wichtigste Nachricht für den ESM im Jahr 2021 ist, dass der überarbeitete ESM-Vertrag von der Eurogruppe und vom Europäischen Rat Ende 2020 gebilligt wurde. Er wurde von den EU-Botschaftern Ende Januar 2021 unterzeichnet. Nun kommt es zu den nationalen Ratifizierungsverfahren. Sobald diese erfolgreich abgeschlossen sind, wird der ESM ein breiter ausgelegtes Mandat haben.
Was beinhaltet das?
Wir werden ein neues Kreditinstrument haben – den gemeinsamen Backstop für den Single Resolution Fund. Der ESM wird daher zur letzte Sicherungsinstanz für gescheiterte Banken im Euroraum. Die bestehenden vorsorglichen Kreditlinien werden von den Ländern des Euro-Währungsgebiets leichter in Anspruch zu nehmen sein. Der ESM wird eine größere Rolle bei der Vorbereitung, Gestaltung und Überwachung künftiger Länderprogramme spielen, und unser Team wird die makroökonomischen und finanziellen Risiken in allen 19 Ländern des Euroraums verfolgen. Wir werden bei beiden Aufgaben eng mit der Europäischen Kommission zusammenarbeiten. In unseren vielen Gesprächen mit den Marktteilnehmern stellten wir fest, dass Banken, Investoren und Ratingagenturen diese Reform als einen wichtigen Schritt zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, und sowohl für den Markt als auch für uns als Credit-Name positiv ansehen.
Welche wirtschaftlichen Perspektiven für die Eurozone in Zeiten der Pandemie haben Sie?
Da sehe ich drei Zeitachsen. Kurzfristig wird es noch einige schwierige Wochen bzw. Monate mit Lockdowns geben, so lange bis die Einführung des Impfstoffs abgeschlossen ist. Sobald das geschehen ist, werden wir mittelfristig eine Erholung erleben. Die Sparquoten in Europa sind hoch, die Menschen wollen wieder konsumieren, reisen oder in Restaurants gehen. Es wird eine Nachholphase geben.
Und langfristig?
Längerfristig gibt es eine Reihe von Herausforderungen für Europa. Dazu gehören ein relativ geringes Wachstum aufgrund der demografischen Entwicklung und der möglichen negativen Auswirkungen der Pandemie, aber auch aufgrund einer höheren Verschuldung, hohe Vermögenspreise und zunehmende Einkommensunterschiede und auch regionale Divergenzen. Die politischen Entscheidungsträger müssen sich diesen Herausforderungen stellen. Wir müssen also auf dem Radar haben, dass dort Risiken auftreten können. Insgesamt bin ich optimistisch, denn mit all den europäischen und nationalen Schritten, die wir bisher unternommen haben, haben wir eindeutig ein viel schlechteres Ergebnis vermieden, und das Projekt Next Generation EU kann das längerfristige Wachstum stärken, wenn es gut umgesetzt wird.