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Die Währungsunion in einer sich verändernden Welt - Rede von Klaus Regling

Speeches
ESM


Klaus Regling, ESM Geschäftsführender Direktor
“Die Währungsunion in einer sich verändernden Welt”
70 Jahre Börsen-Zeitung
Luxemburg, 10 Mai 2022

 

(Es gilt das gesprochene Wort)
 

Guten Abend,

zunächst einen verspäteten, aber dennoch herzlichen Glückwunsch an die Börsen-Zeitung zum 70-jährigen Bestehen.

Meine Gratulation gilt der ganzen Redaktion und allen Mitarbeitern. In den letzten Jahrzehnten habe ich mit vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Börsen-Zeitung Kontakt gehabt, ihre präzise Berichterstattung hat mich stets beeindruckt. 

Am 1. Februar 1952 veröffentlichte die Börsen-Zeitung ihre erste Ausgabe. Das Blatt argumentierte damals, dass aufgrund des hohen „Interesses am Wertpapiermarkt – wie am Kapitalmarkt überhaupt“ ein weiteres Börsenblatt „keiner besonderen Rechtfertigung“ bedürfe.

Nachdem ich in den letzten zehn Jahren einen der großen Emittenten von Euro-Anleihen in der Welt verwaltet habe, kann ich nur bestätigen, dass das Interesse an den Finanzmärkten in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Die Arbeit der Börsen-Zeitung braucht also wirklich keine besondere Rechtfertigung.

1952 war ein wichtiges Jahr, auch für Europa. Sechs EU-Länder, unter ihnen Deutschland und Luxemburg, folgten der Idee des damaligen französischen Außenministers Robert Schuman.1  Schuman sagte: „Wer nicht mehr frei über Energie und Stahl verfügt, kann keinen Krieg mehr erklären.“ So entstand die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Gründungsgemeinschaft der heutigen Europäischen Union.2  Angesichts der aktuellen geopolitischen Lage, erscheint Schumanns Aussage aktueller denn je.

Neben den Problemen der Pandemie erleben wir jetzt einen Krieg in Europa. Der Krieg hat schreckliche Folgen für die Menschen und beeinträchtigt auch die Wirtschaft in gravierender Weise. Wahrscheinlich stellt der Krieg Europa vor noch größere Herausforderungen als die Pandemie. 

Beide Krisen belasten das Wachstum und machen die wirtschaftliche Entwicklung schwer vorhersehbar. Die Europäische Kommission wird kommende Woche ihre Frühjahresprognose veröffentlichen und wird eine erste Einschätzung zu den Auswirkungen des Krieges auf die wirtschaftliche Lage in der EU geben.

Aber der Krieg in der Ukraine stellt uns auch auf geopolitischer Ebene vor große Herausforderungen. Es stellt sich die Frage, ob wir uns im Übergang zu einer neuen Weltordnung befinden: ein Trend zur Desintegration und De-Globalisierung mit potenziell schwerwiegenden politischen und wirtschaftlichen Folgen.  

Es gibt eine Gruppe von Ländern, die sich weder auf die Seite der USA noch auf die Seite Chinas stellen möchte. In mancher Hinsicht scheint dies mit den „Blockfreien Staaten“ während des Kalten Krieges vergleichbar zu sein. Das Abstimmungsverhalten in der UN-Vollversammlung gibt einige Hinweise auf geopolitische Ausrichtungen, auf neue regionale Blöcke, die sich herausbilden könnten. Es zeigt, welche Länder neutral bleiben wollen. Mit Ländern wie Indien, Indonesien, Brasilien und Südafrika, handelt es sich um fast die Hälfte der Weltbevölkerung.

Larry Fink, Gründer von BlackRock, formulierte kürzlich: Der Krieg markiert „einen Wendepunkt in der Weltordnung der Geopolitik, der makroökonomischen Trends und der Kapitalmärkte“. Der Krieg in der Ukraine wird wahrscheinlich den Trend zur De-Globalisierung, zu einer wirtschaftlich weniger integrierten Welt, beschleunigen. Ein Trend, der sich bereits seit der großen Finanzkrise abzeichnet.  

Was bedeutet das für Europa und für unsere Währungsunion? 

Meiner Meinung nach ist es ziemlich klar und einfach: Wenn Europa in 10, 20 oder 30 Jahren in der Welt eine Rolle spielen will, muss es enger zusammenarbeiten und sich stärker integrieren. Der Beitrag Europas zur Weltwirtschaft lag 1950 bei fast 30%, beträgt heute rund 15% und wird bis 2050 auf unter 10% sinken.  

Manche argumentieren, dass die europäische Integration nur in Krisen voranschreitet. Wenn das so ist, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt. 

Für die Europäische Union brauchen wir in den nächsten Jahren eine EU-Vertragsänderung, um Europas strategische Souveränität zu stärken. Und um vielleicht einen „pragmatischen Föderalismus“ anzustreben, wie es der italienische Ministerpräsident Mario Draghi vergangene Woche im Europäischen Parlament vorgeschlagen hat. 

Ich will mich heute Abend aber auf unsere Währungsunion konzentrieren, auf Maßnahmen, die ohne Vertragsänderung möglich sind. 

Sinnvolle Maßnahmen für die Währungsunion 

Schauen wir auf den Euroraum, so sehen wir, dass die Währungsunion dank der Reformen und dank neuer Institutionen, die nach der Eurokrise umgesetzt und geschaffen wurden, heute Krisen besser bewältigen kann. Der Euroraum funktioniert heute besser, ist widerstandsfähiger dank des Beginns der Bankenunion mit der europäischen Bankenaufsicht und dem Bankenabwicklungsfond – und dank der Schaffung der beiden Rettungsschirme EFSF und ESM. 

Dass wir Krisen heute besser bewältigen können, hat sich auch in der Pandemie gezeigt: Als die Pandemie Europa erreichte, haben die Europäischen Institutionen milliardenschwere Hilfsprogramme geschaffen, um Arbeitsplätze zu sichern und Unternehmen zu unterstützten. Die Schnelligkeit, der Umfang und die gute Koordinierung der verschiedenen europäischen umfangreichen Maßnahmen beruhigte die Finanzmärkte. Und diese europäischen Maßnahmen kamen zu den nationalen Maßnahmen hinzu. All diese Maßnahmen trugen dazu bei den wirtschaftlichen Schaden der Pandemie zu begrenzen. Und sie zeugten auch von einem noch nie dagewesenen Maß an Solidarität.

Ein Aufruf zu mehr Integration: Bankenunion und Kapitalmarktunion

Nach dem erfolgreichen Krisenmanagement in der Pandemie stellt sich die Frage: wie können wir den Euroraum noch besser gegen Krisen schützen? 

Mit Blick auf die Zukunft sollte die „Risikoteilung“, die eine breitere und bessere Reaktion auf Schocks ermöglicht, in der Währungsunion verstärkt werden. 

Im Vergleich zu den USA, ist die „Risikoteilung“ in Europa äußerst gering. Wir haben kein gemeinsames Steuer- und soziales Sicherungssystem – und werden das wohl auch nie haben. Und wir haben keinen integrierten Banken- und Kapitalmarkt. 

Diese ausgleichenden Mechanismen sorgen in den USA dafür, dass regionale Sonderkonjunkturen nicht zu großen wirtschaftlichen Divergenzen innerhalb der USA führen. Im Euroraum können asymmetrische Schocks – Probleme, die nur ein einziges Land oder eine einzige Region betreffen – hingegen zu Divergenzen und Fragmentierung führen. Das ist für den Binnenmarkt und die Währungsunion, für alle Mitgliedsstaaten, schädlich. 

Maßnahmen, um die Wirtschafts- und Währungsunion durch mehr „Risikoteilung“ widerstandsfähiger zu machen, steht schon seit geraumer Zeit auf der Tagesordnung. Bankenunion, Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen, Kapitalmarktunion sind die entsprechenden Stichworte. Sie würden durch eine effizientere Allokation von Kapital außerdem zu einem stärkeren Potenzialwachstum in Europa beitragen, und auch die internationale Rolle des Euro stärken. 

Der nächste wichtige Schritt in der Bankenunion ist die Letztsicherung für den einheitlichen Bankenabwicklungsfonds durch den ESM. Der „backstop“ wird dazu beitragen, dass Banken auch in einer größeren Krise in geordneter Weise abgewickelt werden können, ohne dass Steuergelder für ihre Rettung ausgegeben werden müssen. Sicher auch ein interessantes Thema für die Börsen-Zeitung.

Eine Kapitalmarktunion ist das andere große Projekt zur Stärkung der Risikoteilung in der Währungsunion. Wir brauchen Fortschritte bei der Vereinheitlichung der Marktaufsicht und bei der Steuerbasis für Unternehmen, bei der teilweisen Harmonisierung nationaler Insolvenzverfahren und bei der Abwicklung von Handelsgeschäften. 

Zur Veranschaulichung: Derzeit besteht der Euroraum aus 19 einzelnen Kapitalmärkten mit jeweils eigenen Regeln im Aufsichts-, Steuer- und Insolvenzrecht. Ein Investor außerhalb des Euroraums muss 19 Experten für Aufsichts-, Steuer- und Insolvenzrecht beauftragen, um Investitionen in allen Ländern des Euroraums tätigen zu können. Das kann für die internationale Rolle des Euro nicht gut sein.

Mit einer vollständigen Banken- und Kapitalmarktunion würde die Risikoteilung innerhalb der Währungsunion sehr viel stärker werden – ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, wo der integrierte Finanz- und Kapitalmarkt dazu beiträgt, dass regionale konjunkturelle Unterschiede nicht zu groß werden.

Darüber hinaus kann die Risikoteilung auch über Fiskalmechanismen erfolgen. Dies geschieht seit langem über den EU-Haushalt und über Darlehen der Europäischen Investitionsbank, seit einem Jahrzehnt über ESM-Kredite, und seit neuestem auch über den Wiederaufbaufonds der Europäischen Kommission.  

Ein Stabilitätsfonds zur weiteren Stärkung der Widerstandsfähigkeit

Eine weitere Stärkung der „Risikoteilung“ im Euroraum könnte über einen Stabilitätsfonds, eine fiskalische Kapazität zur makroökonomischen Stabilisierung, erfolgen. Hierzu haben ESM Ökonomen letzte Woche einen Diskussionsvorschlag gemacht 

Ein solcher Stabilitätsfonds könnte Ländern, die von einem erheblichen asymmetrischen Schock betroffen sind – wie zum Beispiel einer Pandemie, einem Krieg oder auch einer Naturkatastrophe –, zusätzliche Finanzmittel zur Verfügung stellen, wenn der nationale finanzpolitische Spielraum unzureichend ist. 

Vorschläge zu solch einem Fonds gibt es seit Beginn der Währungsunion und alle europäischen und internationalen Institutionen unterstützen diese. Jetzt, nach den Krisen der letzten Jahre, in denen alle Länder viele zusätzliche Schulden machen mussten, könnte ein solcher Stabilitätsfonds besonders nützlich werden. 

Der ESM könnte einen solchen revolvierenden Fonds einrichten. Das wäre mit unserem Mandat vereinbar. Wir haben außerdem eine ausreichende Kreditvergabekapazität und mehr als 10 Jahre Erfahrung im Krisenmanagement. 

Lassen Sie mich zum Schluss kommen.

Schlussfolgerung

Man muss nur eine Viertelstunde über Europa und den Euro sprechen, und schon wird deutlich, dass es noch viel zu berichten geben wird – auch in den kommenden 70 Jahren!

Jean Monnet, einer der Gründerväter der Europäischen Union, schrieb in seinen Memoiren: „Europa wird in Krisen geschmiedet und wird die Summe der Lösungen sein, die für diese Krisen gefunden wurden“. Er hatte leider Recht. Jede Krise bringt Leid, aber die vergangenen Krisen waren nicht umsonst. Wir haben Lehren aus ihnen gezogen und uns weiterentwickelt. 

Die Architektur der EU und des Euroraums hat aber noch Lücken. Und der Übergang zu einer neuen Weltordnung erfordert entschlossenes Handeln erforderlich, um die Widerstandsfähigkeit der Währungsunion zu stärken und die Souveränität Europas zu festigen. 

Europa ist viel mehr als die Summe seiner Mitgliedsstaaten. Weitere Integrationsfortschritte sind machbar. Und ich bin zuversichtlich, dass dies in den nächsten Jahren gelingen wird. 

Ich danke Ihnen.


1 Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande.

2 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) | bpb.de

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