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Rolf Strauch im Gespräch mit dem Jacques Delors Institut (Thu Nguyen, Johannes Lindner)

Interviews

Rolf Strauch im Gespräch mit dem Jacques Delors Institut (Thu Nguyen, Johannes Lindner). Mitschrift des Interviews mit ESM-Chefvolkswirt Rolf Strauch. Jacques Delors Institut in Berlin. Aufgezeichnet am 17. November 2022, veröffentlicht am 24. November 2022. Interviewer: Thu Nguyen

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Mitschrift

Thu Nguyen: Wie schlimm ist es, wie schlimm steht es? Oder wie steht es um die wirtschaftliche Lage in Europa momentan? Möchtest du anfangen, Rolf?

Rolf Strauch: Gerne, Thu. Aus meiner Sicht ist es vielleicht ein guter Zugangspunkt, wenn man über die wirtschaftliche Lage nachdenkt und über die Krise nachdenkt, sich mal vor Augen zu führen: was werden unsere Kinder über diese Krise sagen? Was werden unsere Kinder von dieser Krise behalten? Wenn ich zurückdenke, als ich ein kleiner Stöpsel war und von der ersten Ölpreiskrise betroffen wurde und dann schon als Teenie von der zweiten Ölpreiskrise, was mir im Gedächtnis geblieben ist, waren die autofreien Sonntage. Und ich glaube es mir deshalb im Gedächtnis geblieben, weil sie sozusagen die Normalität durchbrochen haben. Auf einmal ist was, dass man für normal angenommen hat, nämlich, dass man zur Tankstelle fährt und das Öl da ist oder Benzin da ist, halt auf einmal nicht mehr da war. Und das ist, glaube ich, was auch vielen jetzt passiert ist, mit der Ukraine, mit der Energiekrise, die wir aktuell durchleben, dass man auf einmal wieder auf den Faktor Energie stößt und die Bedeutung und den Preiseffekt von Energie, und in einer Weise, die für viele die Normalität durchbricht; und dass dies halt auch ein großes Unsicherheitsgefühl hervorruft. Und das ist, glaube ich, auch zentral, um diese Krise zu verstehen.

Nguyen: Und was bedeutet das wirtschaftlich?

Strauch: Wenn man das jetzt übersetzt in Ökonomie, in große Konzepte sozusagen, was dann dabei rumkommt, ist ja im Grunde, was wir aktuell erleben, was die Ökonomen als „terms-of-trade“ Schock bezeichnen. Das heißt, es verschieben sich die internationalen Preise und der Euroraum ist negativ davon betroffen. Wir sind mehr davon betroffen als andere Regionen. Wir exportieren im Grunde Einkommen und Wohlstand ins Ausland, an diejenigen, die Öl, Gas und anderes exportieren. Das heißt, insofern werden wir ärmer. Und das ist so bei dieser Art von Krisen. Der zweite Punkt, der sich damit verbindet, ist, was wiederum von ökonomischer Sicht aus gerne als „cost-push“ Schock bezeichnet wird. Das heißt, die Kosten steigen an, das bedeutet, die Produktion wird teurer und deshalb wird es auch schwieriger, die Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Deshalb haben wir diese Situation: Inflation geht hoch und das Wachstum geht runter und das hast Du eben beschrieben. Inflation ist im historischen Vergleich für die meisten von uns unglaublich hoch, und gleichzeitig sind die Wachstumsaussichten schwach. Und das ist eine Situation, mit der muss man fertig werden. Und das ist nicht ganz einfach von der politischen Seite aus, von der wirtschaftspolitischen Seite aus. Und darüber können wir dann noch gerne im Detail noch sprechen. Aber eine Situation, in der man im Grunde Wohlstand verliert und in der dieser Zwiespalt zwischen Inflation und Wachstum besteht, muss man versuchen zu überwinden durch die richtigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf der geldpolitischen Seite und bei der Fiskalpolitik. Vielleicht kann ich noch einen Punkt dazu machen, weil ich auf die Vergangenheit geschaut habe und den Brückenschlag praktisch zu den Ölpreiskrisen gemacht habe. Wir müssen gleichzeitig bedenken, dass wir in vielerlei Hinsicht besser dastehen als zur Ölpreiskrise. Das Ergebnis der Ölpreiskrise war eine verlängerte Situation der Stagnation: relativ hohe Preisentwicklung, relativ hohe Inflation und eben relativ schwaches Wachstum. Und heute existieren ein paar Faktoren in der Form nicht, die damals dazu geführt haben, dass man diese lange, schwache Phase hatte. Und dazu gehört aus meiner Sicht der Arbeitsmarkt. Der Arbeitsmarkt in Europa, im Euroraum, ist sehr stark, auch aktuell. Das heißt, es gibt uns wirklich auch einen guten Puffer. Das zweite ist, dass auch die Banken sehr viel stärker dastehen, als sie zum Beispiel in der vergangenen Krise waren, wenn man die Eurokrise zurückdenkt. Die Banken können jetzt eine viel bessere Rolle auch dabei spielen, die Wirtschaft zu unterstützen, über die Krise hinweg. Und ich denke auch, dass wir eine Menge getan haben, um tatsächlich Europa krisenfester zu machen durch die Institutionen. Aber darüber werden wir auch später noch sprechen.

Nguyen: Zu der Frage der Krisenfestigkeit kommen wir noch. Johannes, möchtest du etwas ergänzen zu der Frage wirtschaftliche Lage?

Johannes Lindner: Ich denke, dass das Rolf sehr gut beschrieben hat. Vielleicht zwei Teilaspekte noch, die man auch im Hinterkopf behalten muss, die auch von Seiten der Institutionen auch bereits im Blick sind. Das eine ist das Zusammenspiel zwischen höheren interest rates, also höheren Zinsen und die Schuldensituation der Mitgliedsstaaten. Das heißt, wenn Schulden steigen und Zinsen steigen, sind natürlich die Belastungen, die von den Schulden für die nationalen Haushalte entstehen, höher. Und das zweite, Rolf hatte die Situation der Banken angesprochen, ist der Bereich, den wir als nicht-Banken bezeichnen, also der nicht Bankensektor, der ist auch regulatorischer weniger stark erfasst. Und da gibt es gewisse Anzeichen, die dazu geführt haben, dass man jetzt genauer hinguckt und mögliche Entwicklungen genauer anschaut.

Nguyen: Rolf, du hast eben den Bogen zu der Ölkrise geschlagen. Aber ich würde gerne wissen, wie sich diese Krise denn vergleichen lässt mit einer Krise, die, die etwas näher an uns dran ist, nämlich vor zehn Jahren die Eurokrise. Glaubst du, dass wir momentan – vielleicht fast unbemerkt von der Öffentlichkeit – wieder auf eine neue Finanzkrise zu schlittern und, falls ja oder falls nein, was sind oder wären denn die Anzeichen, dass das passieren könnte?

Strauch: Hier muss man sich bewusst machen, dass die Eurokrise und die aktuelle Krise unterschiedliche Strukturen hatten. Die Eurokrise entstand, weil es die große globale Finanzkrise gab, die im Grunde in den Euroraum rübergeschwappt ist, weil unsere Finanzmärkte nicht vorbereitet waren, und die dann zusammengetroffen ist, mit strukturellen Schwächen, die in Mitgliedsstaaten bestanden. Dazu gehörte vor allem der Verlust an Konkurrenzfähigkeit in einigen Mitgliedsstaaten, die diese Mitgliedstaaten dann auch abhängig gemacht haben von externer Finanzierung. Das zweite war, dass man in den Staaten auch einen Bauboom hatte, der zu einer „Price Bubble /Housing Bubble“ geführt hat. Und diese Blase ist dann geplatzt. Und diese Zusammenkunft und vor allem diese strukturellen Schwächen, die zu der Zeit bestanden, haben dann auch dazu geführt, dass es zur Überschuldung kam und dann zu dem Stopp von Kapitalfluss in diese Länder und letztlich zu der Notwendigkeit, dass diese Länder auf den ESM zukamen. Der ESM hat dann dabei geholfen, diesen Ländern wieder Marktvertrauen zu geben. Jetzt sind wir in einer anderen Situation. Wir haben jetzt auch diesen großen Schock, diesen globalen Schock über die Energiepreise, aber die Länder haben nach der [Euro]Krise eine Menge getan, um diese strukturellen Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn wir uns das anschauen, die Zahlungsbilanzen über die vergangenen Jahre, vor der Energiekrise, dann waren die Zahlungsbilanzen gut. Das heißt, es war eine relative Stärke und wenig Notwendigkeit von außen finanziert zu werden. Das war gut. Der zweite Punkt: Die Haushaltsdefizite hatten sich vor der Pandemie, erholt. Die Pandemie hat natürlich dazu geführt, dass diese Haushaltsdefizite ausgeweitet wurden, aber wiederum von der relativ günstigen Situation aus. Und wir, zum Beispiel, schauen natürlich sehr auf Griechenland. Griechenland hatte vor Beginn der Finanzkrise, der Eurokrise, hatte ein Haushaltsdefizit von 15% [des BIPs]. Das war vor der Pandemie ganz anders. Griechenland hatte einen großen Haushaltsüberschuss. Griechenland bewegt sich jetzt wieder hin zu einem Haushaltsüberschuss, reduziert stark die Defizite. Das heißt, die Situation ist in der Hinsicht strukturell besser. Dritter Faktor ist, bei der Eurokrise war der Bankensektor, der sogenannte „doom loop“ zwischen Banken und Staaten – Staaten verlieren ihre Kreditwürdigkeit, deshalb wird das Bankensystem schwächer. Deshalb besteht die Befürchtung, dass der Staat einspringen muss – diese Wechselbeziehung war signifikant für die Eurokrise seinerzeit. Heute stehen die Banken sehr viel sicherer da. Das heißt, insofern sind einige dieser strukturellen Schwächen in der Form nicht da. Und insofern sind auch die sozusagen vererbten Risiken, die Risiken, die wir mit uns tragen, geringer. Es stimmt aber trotzdem, dass man aufpassen muss und nach vorne schauend nicht klar ist, dass alles gut und einfach funktionieren wird. Und da gibt es ein paar Elemente, die da eine Rolle spielen. Johannes hatte schon gesagt, der Nichtbankensektor, Nichtbanken Finanzsektor, ist wesentlich weniger reguliert. Und es ist tatsächlich so, dass in diesem Sektor Risiken aufgetreten sind, in der Folge, in der jüngeren Vergangenheit und auch in der Zukunft, auftreten können, die signifikant sind. Einmal war das der Fall bei den Derivativen für Energieprodukte, die auf einmal sehr, sehr hohe Liquiditätsanforderungen gestellt hatten, wo Staaten einspringen mussten, um sie dann abzufangen. Das zweite war zum Beispiel bei der Finanzkrise, wenn man so möchte, die sich für England ereignet hat, als auch bestimmte Positionen in dem Rentensystem dazu geführt hat, dass es zu schnellen Marktentwicklungen kam, die dann für England, für den englischen Markt, für die englischen Staatsanleihen, ein Problem bedeutet haben. Das heißt, solche Faktoren können auftreten, darauf müssen wir in Zukunft achten. Darüber hinaus ist es natürlich so, dass wir auch nicht genau wissen, wie der Zinspfad in der Zukunft aussehen wird. Das heißt, es kann einfach zu hohen Zinsen kommen, zu höheren Zinsen, als der Markt sie aktuell erwartet. Wir wissen nicht genau, wie der zukünftige Wachstumspfad aussieht. Und insofern ist es schon sehr wichtig, auch sehr konsequent über Fragen der Schuldentragfähigkeit nachzudenken, eine verantwortliche Wirtschaftspolitik zu führen. Und dieser glaubwürdige Fiskalpfad, den Johannes auch angesprochen hat, im Sinne von man muss halt Schuldentragfähigkeit absichern, ist auch eine wichtige Bedingung für eine sichere und stabile Wirtschaft in der Zukunft.

Nguyen: Und wenn wir jetzt ein bisschen rauskommen aus dieser Frage, ob eine Finanzkrise droht und uns mal die verschiedenen Krisen anschauen, Johannes. Adam Tooze hat ja diese Idee der Polykrise eingeführt oder beschrieben. Und zwar sagt er dazu, dass eine Polykrise nicht nur eine Situation ist, in der man mit mehreren Krisen gleichzeitig konfrontiert ist, sondern eine Situation, in der, wenn viele verschiedene Krisen zusammenkommen, das Ganze gefährlicher ist als die Summe der einzelnen Krisenteile. Und er hatte eine Matrix mit ganz vielen ineinander übergreifenden Krisen, unter anderem die Klimakrise, die Corona Pandemie, die Hungerkrise, das Risiko einer nuklearen Eskalation, das Risiko einer europäischen Finanzkrise, das aber ja jetzt geringer ist als vor zehn Jahren, wie wir gehört haben, das Risiko einer Stagflation. Was würdest du sagen? Sind wir schon in diesem Bereich, in dem diese ganzen verschiedenen Krisen zusammenkommen, und eine noch viel größere, gefährliche Krise verursachen?

Lindner: Also ich finde Adam Tooze spannend, auch weil er als Historiker und Ökonom ja in großen Dimensionen und Zusammenhänge denkt. Und insofern glaube ich schon, dass seine Analyse hilfreich ist, weil sie, ja weil sie deutlich macht, dass wir eine gestiegene Häufigkeit von Krisen haben und auch auf die Interaktion zwischen den Krisen abhebt. Und er guckt auch auf die Triebkräfte hinter dieser gestiegenen Häufigkeit, die diesen rasanten Wandel letztlich, den er beschreibt, auslösen. Und da fand ich es ganz spannend, dass Rolf uns in die 70er Jahre zurückgeführt hat. Und da finde ich eine Zahl wirklich echt bemerkenswert: dass wir vor 50 Jahren die Weltbevölkerung halb so groß war wie jetzt. Und das zeigt natürlich, was für ein Druck auf dieses System, auch auf dieses System Welt, aber auch auf das politische System, letztlich auf das zukommt. Wir haben gleichzeitig natürlich viel mehr an Geschwindigkeit. Sowohl von Menschen, Waren, Informationen, viel stärker verzahnte Globalisierung über den ganzen Globus hin hinaus. Wir haben auch eine Verschiebung der Gewichte. Das große Wachstum Chinas, aber auch Indiens, einer Reduzierung der Relevanz von Europa. Und das alles natürlich vor dem Hintergrund eines letztlich begrenzten Raums und endlicher Ressourcen. Dieser Druck, der quasi auf politische Lösungen zu kommt, den finde ich, beschreibt Tooze gut. Und er sagt halt auch, das bedeutet auch, es gibt keine einfachen Lösungen. Die Problematik wird komplexer. Es wird auch schwieriger, die Zusammenhänge zu verstehen. Und es ist auch nicht so einfach, das Richtige zu tun. Das heißt, der Druck auf politische Ordnungen und politische Lösungen steigt an.

Strauch: Wenn ich da vielleicht auch einhaken kann, dem stimme ich zu. Was eine der großen Lehren ist: nicht jede Krise hat dieselbe Struktur und nicht jede Krise hat dieselbe Lösung. Und wenn wir über die unterschiedlichen möglichen Krisenursachen nachdenken, die es in der Zukunft geben kann, dann müssen wir auch über unterschiedliche Instrumente nachdenken, um diese zu beantworten. Und nur um jetzt ein Beispiel zu nennen: In der Eurokrise hatten wir diese Strukturanpassungsmaßnahmen, weil die Länder tatsächlich auch strukturelle Probleme aufwiesen. Und das waren langfristige Programme und hatten hohe Finanzierungsaufwände. Als die Pandemie eingetroffen ist, haben wir eine andere Fazilität aufgesetzt, wo keine Makrokonditionalität da war, denn die Herausforderung in der Pandemie war halt einfach: Man muss die Gesundheitssituation und den unmittelbaren Zahlungsabbruch für Unternehmen und die Zahlungseinbrüche für die Haushalte abfedern. Und deshalb haben wir dann auch eine Fazilität aufgesetzt für die Pandemie, wo diese Makrokonditionalität nicht da war, sondern die einzige Bedingung war im Grunde, dass die Mitgliedsstaaten das Geld für Gesundheitsausgaben nutzen. Es kann sehr unterschiedliche Krisenursachen geben– und manche von diesen Ursachen werden vielleicht nur ganz kurzfristig wirken und dann kann die Wirtschaft sich schnell wieder erholen – Cyberrisiko, beispielsweise. Andere [Ursachen] können sehr viel langfristige Auswirkungen haben. Finanzkrisen haben in der Regel langfristige Auswirkungen. Wenn eine Naturkatastrophe eintritt, dann wird Kapital zerstört. Das muss wieder aufgebaut werden, das kann länger dauern. Das heißt, man braucht dann unterschiedliche kalibrierte Instrumente, um die jeweilige Situation zu adressieren. Das ist, glaube ich, auch eine der Herausforderungen.

Nguyen: Wie gut glaubst du, ist die EU denn momentan aufgestellt, um eben solche Instrumente aufstellen zu können oder um reagieren zu können, wenn neue Krisen aufkommen?

Strauch: Also, wenn man mir diese Frage stellt, was dann unmittelbar bei mir als Gedanke auftaucht, ist der erste Tag beim EFSF seinerzeit. Als ich 2010 dahin ging und wir einen Krisenmechanismus aufgebaut haben. Eine andere EU-Institution hat uns ihre alten Büros zur Verfügung gestellt. Man lief da rein, da war ein alter blauer Teppich. Holzfarbene Möbel, leere Büros; in manchen Büros, die Zierleisten oder die Möbel auseinandergenommen. Und dann war da das Büro von Klaus Regling, und er sagte mir, ich solle mir ein Buero aussuchen. Ich habe mir das Büro ihm gegenüber ausgesucht. Das war ein Start-up. Da war die Finanzkrise im vollen Gange und wir fingen bei null an, praktisch; bei null, wirklich buchstäblich. Heute, wenn man zum ESM geht, da gibt es ein anständiges Türschild, da gibt es eine anständige Rezeption, da gibt es eine ganze Institution, die steht da und die ist funktionstüchtig. Also kurzum, ich glaube, hat sich einfach wahnsinnig viel getan. Und nicht nur bei uns, sondern wenn man sich generell anguckt für den Euroraum. In der Krise damals, die EZB war nicht vorbereitet. Sie hatte im Grunde nicht die Instrumente, auf die Situation zu reagieren. Die EZB hat ihr Instrumentarium ausgeweitet. Wir haben viele europäische Mechanismen wie die gemeinsame Aufsicht, wie die gemeinsame Bankenabwicklung aufgestellt, um besser auch mit den systemischen Risiken, den länderübergreifenden Risiken, zurechtzukommen. Wir haben natürlich den ESM als Krisenmechanismus, als Backstop, der existiert. Und wir haben dazu noch in der letzten Generation so etwas wie NextGenerationEU, das heißt in der Form Krisenprogramm, das darauf orientiert ist, die Wirtschaft umzubauen, in der Hinsicht zukunftsfähig zu machen. Das heißt, wenn man sich diese Bandbreite heute anguckt, sind wir einfach viel, viel weiter. Und ich bin ziemlich sicher, wenn ich gefragt werde „Glaubst du, dass der Euro noch lange bestellt ist?“, ist meine Antwort: Ja! Weil ich glaube, dass wir in Europa einfach die Fähigkeit haben und die Möglichkeit haben, uns der Situation entsprechend anzupassen und Lösungen zu finden. Das ist oft nicht einfach und oft würden wir uns wünschen, es geht schneller. Aber die Erfahrung der letzten Krisenzeit zeigt mir, dass es möglich ist.

Nguyen: Also deutlich besser aufgestellt als vor zehn Jahren, so wie es klingt. Johannes, wir sind jetzt ja nicht nur zehn Jahre nachdem, seit es den ESM gibt und zehn Jahre seit der Eurokrise, sondern auch jetzt, zehn Jahre seit dem „Four Presidents‘ Report“, als die Präsidenten des Europäischen Rates, der EU-Kommission, der Eurogruppe und der EZB einen gemeinsamen Bericht verfasst haben zur Vervollständigung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Rolf war jetzt sehr positiv in seiner Bilanz der letzten zehn Jahre, was die Krisenfestigkeit der EU angeht. Gibt es deiner Meinung nach denn noch Punkte auf dieser WWU Agenda oder grundsätzlich an der Agenda der EU, die in den letzten zehn Jahren noch nicht oder noch nicht ganz genügend umgesetzt wurden, um die EU wirklich krisenfest zu machen? Oder sind wir eigentlich tatsächlich sehr, sehr gut aufgestellt?

Lindner: Also zunächst einmal möchte ich Rolf recht geben, dass der Bericht damals geschrieben wurde vor dem Hintergrund, dass wir wirklich fundamental Angst hatten, dass der Zusammenhalt der Eurozone nicht gesichert ist. Und zugespitzt gesagt, ging es um das Überleben des Euro. Und das ist geschafft und das ist auch sehr wichtig und das wird auch nicht mehr hinterfragt. Dennoch ist meine eigene Erfahrung dieser zehn Jahre und das Ringen um diese Agenda wahrscheinlich nicht ganz so positiv, wie Rolf das sieht. Und wenn man sich mal drei der vier Unionen herausgreift, finde ich, zeigt sich schon auch die Schwäche im politischen Prozess, diese Agenda weiter zu verfolgen. Wir haben bei der Bankenunion sicher das weiteste, den weitesten Umsetzungsgrad, eine gemeinsame Bankenaufsicht und die Abwicklung, die Rolf schon erwähnt hat. Aber es fehlt weiterhin das europäische Einlagensicherungssystem. Und letztlich ist es gibt es auch weniger Verzahnung von den Banken, weniger grenzüberschreitende Zusammenschlüsse von Banken, als wir das eigentlich erhofft und gewollt haben und wollen weiterhin. Denn gerade diese stärkere Vernetzung, die stärkere finanzielle Integration wäre eben wichtig, um Krisen abzufedern. Die Banken stehen besser da. Das denke ich auch. Aber letztlich ist diese Bankenunion als stark integrierter Bereich, sowohl institutionell als auch in der wirtschaftlichen Verzahnung, nicht so weit, wie wir das gehofft haben. Und letztlich der Versuch, jetzt noch mal wieder auch in diesem Jahr dann den nächsten Schritt zu machen und zumindest eine Vereinbarung zu einer gemeinsamen Roadmap, also noch nicht eine Einführung eines Einlagensicherungssystem, sondern einer gemeinsamen Roadmap ist letztlich an den verschiedenen Positionen gescheitert. Der zweite Punkt ist der Bereich Fiskalunion. Und auch da muss man sagen, dass eben diese Thematik, die damals ganz klar auf die Agenda gehoben wurde, nämlich „Was machen wir zusätzlich zu der Geldpolitik und zusätzlich zu nahezu Regeln für nationale Fiskalpolitik, was machen wir in konjunkturellen Schwankungen mit der Unterstützung einzelner Mitgliedsstaaten?“ Und da gibt es seit langem die Diskussion, die von verschiedener Seite auch immer wieder quasi gepusht wird, wie man so sagt, dass wir ein Instrument brauchen für die Stabilisierung dieser konjunkturellen Schwankungen. Und da hat es bisher in dieser Form keinen Fortschritt gegeben. Damit ist auch verbunden, dass häufig, um quasi Fiskalziele zu erreichen Investitionen abgebaut wurden. Das heißt auch, da eine Priorisierung von Sozialausgaben über Investitionen stattgefunden haben, die auch dann für das Wachstumspotential der einzelnen Mitgliedstaaten nicht positiv war. Insofern sind das, glaube ich, zwei Beispiele, wo ich finde man deutlich sieht, dass diese Agenda als solche eben häufig an politischem Widerstand und auch an Fragmentierung verschiedener Positionen gescheitert ist. Man könnte als Letztes noch die Wirtschaftsunion nennen. Diese Frage der Reformanreize, um Wirtschaftsstrukturen zu schaffen. Da gibt es positive Anzeichen. Wir haben, wie Rolf gesagt hat, nicht mehr diese Ungleichheiten, die wir noch in Zeiten der Eurokrise hatten. Aber die Frage, inwiefern man nationale Reformanreize noch mal verstärken kann, die ist auch ein offener Punkt, zumindest als die als Eurozonenagenda.

Nguyen: Ihr habt jetzt beide darüber gesprochen, dass es vor zehn Jahren vor allem darum ging, den Euroraum zu retten. Oder dass die Frage im Raum stand, ob der Euro überleben würde, die Eurozone überleben würde. Jetzt, zehn Jahre später, in den Krisen, die wir in den letzten Jahren gesehen haben, haben wir aber auch gesehen, dass die Antworten deutlich pan-europäischer wurden, also wirklich durch die 27 Mitgliedsstaaten beschlossen und umgesetzt und dass weniger innerhalb des Rahmens der Eurozonen Mitgliedsstaaten getan wurde. Würdet Ihr sagen, dass es eine Bedeutung hat für die Zukunft, wie Governance in der EU funktioniert?

Strauch: Vielleicht kann ich hierzu sagen, dass ich damit übereinstimme, wie Johannes die noch bestehenden Aufgaben aufgezeigt hat. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die institutionelle Kriseninfrastruktur Europas und des Euroraums wesentlich verbessert haben, seit den frühen Tagen der Eurokrise. Das bedeutet nicht, dass es keine politische Agenda in der Hinsicht mehr gibt. Und was Du gesagt hast, über Vervollständigung der Bankenunion, Stabilitätsfazilität und Kapitalmarktunion, dem stimme ich vollkommen zu. Zu der Frage, die Du aufgebracht hast: das sind in der Tat politisch und ökonomisch interessante und wichtige Punkte. Politisch muss man einfach sehen, dass sich durch den Brexit in Europa die Gewichte verschoben haben. Es ist nicht klar – es ist eine hypothetische Frage – ob NextGenerationEU hätte verabschiedet werden können, wenn Großbritannien noch in der EU gewesen wäre? Vielleicht ja, vielleicht nein. De facto war Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU. Man hat diese Entscheidung gemeinsam treffen können. Gleichzeitig muss man sehen, dass wir natürlich jetzt auch eine Serie von gemeinsamen Schocks hatten, die die EU 27 betroffen haben. Das heißt, insofern war natürlich auch die Notwendigkeit da, gemeinsame Lösungen zu finden. Und es war in der Hinsicht nicht eine echte genuine Euroraum-Lösung, die verlangt wurde. Insofern sind natürlich ebenso Themen, die vielleicht vorher auf der Euroraum-Ebene behandelt wurden, jetzt auf der EU-Ebene behandelt worden und können auch in der Zukunft auf der EU-Ebene behandelt werden. Der dritte Faktor ist, dass der Euroraum an sich natürlich ein Erfolgsmodell ist, und sich ausweitet – Kroatien kommt jetzt nächstes Jahr dazu. Es gibt Bulgarien als Beitrittskandidaten. Insofern verschmelzen natürlich auch EU 27 und Euroraum; die werden einfach identischer. Das trägt auch dazu bei, dass sich die politische Agenda vergemeinschaftet. Es ist aus meiner Sicht aber trotzdem so, dass es schon Unterschiede gibt, wenn man ökonomisch oder auch rechtlich drüber nachdenkt, schon Unterschiede gibt. Die Triebfeder auf EU-Ebene zu handeln ist im Prinzip der gemeinsame Markt und Konvergenz. Das sind genuine EU-Prinzipien. Wenn wir über den Euroraum nachdenken, wenn wir auch nachdenken, was die Reaktion in der Eurokrise getrieben hat, dann ist es klar: die Sicherung des Euro, die Vermeidung von grenzüberschreitenden Effekten durch den Finanzmarkt – sogenannte „Spillovers“. Das ist ein genuiner Bestandteil der Sicherung des Euroraumes und auch der Funktionstüchtigkeit der gemeinsamen Geldpolitik, die nochmal eine besondere Anforderung an den Euroraum stellt. Das ist zumindest ökonomisch gesehen eine mehr genuine Euroraum-getriebene Aufgabe. Man wird in Zukunft sehen, inwieweit tatsächlich diese beiden Agenden – EU und Euroraum – sich dann überlappen oder auch nicht. Und das wird dann zu entsprechenden Lösungen führen.

Lindner: Von meiner Seite denke ich, dass es diese Dynamik gibt, die Du beschrieben hast, das ist richtig. Ich glaube übrigens auch, dass die Briten wahrscheinlich in der EU nicht mitgemacht hätten. Eine so große Schuldenaufnahme, gerade diese fiskalische Dimension der Eurokrise, damals auch der Grund war, warum man einen eigenen institutionellen Ansatz mit der Gründung des ESM gewählt hat. Aber du hast vollkommen recht, das ist Spekulation. Wir wissen nicht genau, wie die Pandemie-Diskussion und wie die Krise verlaufen wäre. Ich glaube, dass auf der einen Seite die Art der Krise mitentscheidend sein wird, ob man eine Eurozonenlösung oder eine EU-Lösung wählt. Ich glaube nur, dass es eine große Dynamik in Richtung EU-Lösungen gibt. Und zwar einfach, weil die Gruppe der nicht-Euroländer wirklich kleiner wird. Das heißt, es kommt dann auch zu einem Punkt, wo man sagt, das ist eine gesamteuropäische Aufgabe und wir können hier nicht mehr differenzieren zwischen der immer kleiner werdenden Gruppe von Euro „Outs“, wie man so sagt, und Euro „Ins“. Und ich glaube eben auch, dass wenn man sich anschaut, was ist die politische Dynamik zu den Lösungen? Es zum Beispiel einfacher ist, so eine Frage wie Stabilisierung über konjunkturelle Schwankungen als politisches Phänomen zu diskutieren, als politische Aufgabe zu diskutieren, und weniger als eine Stützung eines Mitgliedsstaates. Um es abstrakt zu sagen: „hier sind wir in einer Krise, wir geben den Mitgliedstaaten Geld“. Sondern dies ist eine genuine Aufgabe, wo Europa als Europa agieren muss. Die Unterstützung der nationalen Wirtschaften ist quasi mehr das Nebenprodukt einer Verlagerung fiskalischer Aufgaben auf die europäische Ebene. Ich möchte da auf eine sehr interessante Rede hinweisen, die Fabio Panetta vom Direktorium der EZB gerade gehalten hat, wo er eben sagt, Klima und Energiesicherheit sind eigentlich genuin öffentliche Güter, die idealerweise auf der europäischen Ebene angesiedelt werden sollten. Das heißt, hier sollten europäische Lösungen gefunden werden. Und wenn man das europäisch mit – vor allem – starken Investitionen in erneuerbare Energien verbindet, dann kann das auch sichern, dass wir in einem konjunkturellen Abschwung weniger Abbau von Investitionen haben und auch einen quasi stabilisierenden Zahlungsfluss.

Strauch: Hier gibt es vielleicht tatsächlich einen Punkt, wo unsere Meinungen auch ein bisschen auseinandergehen, insofern, dass man halt darauf achten muss, welches Instrument man wählt. Ich habe vorhin davon gesprochen, dass unterschiedliche Krisen unterschiedliche Antworten und unterschiedliche Instrumente bedeuten können. Eine Frage ist, ob ein Instrument – Next Generation EU – das man hat, um im Grunde eine Restrukturierung der Wirtschaft durchzuführen – im Sinne von Nachhaltigkeit – auch das ideale Instrument ist, wenn es um Stabilisierung geht? Stabilisierung sollte kurzfristig erfolgen können, sollte auch kurzfristig wirksam sein. NextGenerationEU ist ein jahrelanges Programm, das über viele Investitionsprojekte läuft. Es hat natürlich auch über die Zeit auch eine gewisse stabilisierende Wirkung. Wenn zum Beispiel, wie jetzt, die Volkswirtschaften von einem zweiten Schock betroffen werden und das Programm läuft und man kann dann dieses Geld benutzen. Aber niemand wusste vorher, dass diese Energiepreiskrise jetzt stattfinden wird. Insofern ist das auch ein Zusammentreffen, wenn man so will. Wir haben wirklich Glück, dass wir jetzt NextGenerationEU haben, weil es hilfreich ist. Aber wenn wir darüber nachdenken, wie sollen wir ein Stabilisierungsinstrument konstruieren, würde ich sagen, es wäre gut, eins zu haben, das auch kurzfristiger wirken kann und dann wirklich mehr auf die aktuelle Konjunktursituation zugeschnitten ist. Der zweite Punkt ist: Du hast es jetzt auch als EU-Aufgabe definiert, weil Du sagst, da kommen Stabilisierung und Klimawandel zusammen. Aus meiner Sicht ist es noch immer so, wenn wir über die Funktionstüchtigkeit des Euroraums nachdenken. Die Vereinheitlichung der konjunkturellen Bewegungen ist eine genuine Aufgabe der Währungsunion, weil es nur eine Geldpolitik gibt. Die betrifft einfach weniger die EU-Länder, die nicht in diese gemeinsame Geldpolitik eingebunden sind. Deshalb würde ich in der Hinsicht argumentieren, dass diese Stabilisierungsfunktion doch noch ein Punkt ist, der mehr auf den Euroraum zutrifft und vielleicht nicht genuin mit einem langwierigen Programm wie NextGenerationEU, das eine Transformation der Wirtschaft bedeutet, beantwortet werden kann. Da sind wir, glaube ich, ein bisschen unterschiedlicher Ansicht.

Nguyen: Wir haben jetzt sehr viel über Krisen-Instrumente gesprochen und auch den ESM mehrmals erwähnt. Und Rolf, du bist Chefökonom und Vorstandsmitglied dort. Aber ich muss sagen, wenn man den ESM von außen betrachtet, sieht es gar nicht so rosig aus. Ich möchte hier mal ein bisschen provokant nachfragen. Es läuft momentan eine Reform des ESM, die hakt aber an der Ratifizierung auf nationaler Ebene. Während der Pandemie gab es zwar ESM-Kredite, aber kein Mitgliedsstaat hat sie beantragt, obwohl sie kaum mit Auflagen kamen. Und auch eure Suche nach einem neuen Geschäftsführenden Direktor läuft schon etwas länger und war bisher noch nicht sehr erfolgreich. Deswegen ganz provokativ: zehn Jahre nach seiner Gründung, ist der ESM noch relevant? Hat er eine Zukunft?

Strauch: Aus meiner Sicht hat der ESM sicherlich eine Zukunft und der Gedanke, der das am einfachsten veranschaulicht, ist im Grunde dieses Bild der Feuerwehr. Mit dem ESM wurde im Grunde eine permanente Feuerwehr für die Finanzstabilität, für den Zusammenhalt der Eurozone gegründet. Und die Tatsache, dass wenn es nicht brennt, dass dann die Feuerwehr nicht ausrückt, bedeutet nicht, dass man nicht gut beraten ist, eine zu haben, und dass man sich im Grunde auch darüber freuen kann, eine zu haben. Das bringt mich auch zu dem Punkt, als Du sagtest, unser Pandemieinstrument ist letztlich nicht benutzt worden. Das stimmt. Aber wir haben mit sehr vielen Investoren weltweit gesprochen, weil wir auch unsere Bonds verkaufen müssen und viel Kontakt mit dem Finanzmarkt haben. Sehr viele Leute haben uns gesagt: die Tatsache, dass ESM auch Teil von diesem ersten Paket war, was in der Pandemie geschnürt worden ist, war einfach sehr vertrauenserweckend, und war sehr wichtig und hat einen echten Finanzmarkteffekt auch gehabt. Selbst heute schauen internationale Investoren mit mehr Vertrauen auf den Euroraum, und der ESM ist Teil dieser Vertrauensstruktur. Das wird uns immer wieder gesagt. Insofern denke ich auch, wenn wir aktuell jetzt keine Kreditfazilität haben, in dem Sinne, dass wir Geld an ein Land auszahlen, dann ist das vollkommen okay. Das bedeutet nicht, dass wir keine Funktion haben. Ich denke, wenn wir über den Euroraum nachdenken, dann ist der ESM auch fundamental eine Rückabsicherung für die Europäische Zentralbank, für die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank. Und das drückt sich darin aus, dass die Europäische Zentralbank in ihrem Instrumentarium, um mit der Fragmentierung des Euroraums zurecht zu kommen, und mit der unterschiedlichen Wirkung von Geldpolitik, sich auch auf den ESM basiert. Deshalb gibt es die Verbindung zwischen dem sogenannten OMT [Outright Monetary Transactions] als Instrument der Ankäufe von Staatsanleihen und der Notwendigkeit, wenn Staaten in einer Schieflage sind, dass es auch ein Programm mit dem ESM geben muss. Deshalb gibt es diese Verknüpfung. Insofern, denke ich, ist es nach wie vor wichtig, und bleibt wichtig, den ESM zu haben. Und insofern haben wir auch eine permanente Funktion. Wir haben auch stark daran gearbeitet, unsere Kapazitäten auszubauen, um uns für diese Vertragsänderungen, die Du genannt hast, vorzubereiten. Mitgliedstaaten haben sich auf diese Vertragsänderungen verständigt. Zentraler Punkt dabei ist der „Common Backstop“, das heißt die Letztabsicherung für die Bankenabwicklung. Das ist ein notwendiger Schritt für die Bankenunion, und das wäre der nächste Schritt für die Verwirklichung der Bankenunion. Ich denke, es wäre sehr gut, wenn der auch wirklich umgesetzt werden könnte. Die Ratifizierung ist sehr weit vorangeschritten. Es gibt zwei Länder, wo aus unterschiedlichen Gründen, das nicht der Fall ist, Deutschland und Italien. In beiden Ländern gibt es das klare „Commitment“, dass man das durchführt. Und ich hoffe, es kann dann auch tatsächlich bald geschehen. Du sprachst das Thema Ernennung des Geschäftsführenden Direktors an: es stimmt, Klaus Regling hat im Oktober sein Amt verlassen. Die Suche für den neuen Geschäftsführenden Direktor dauert an. Der Präsident der Eurogruppe, der gleichzeitig der Vorsitzende unseres Board of Governors ist, hat gesagt, dass diese Entscheidung soll im Dezember getroffen werden. Ich hoffe, dass das dann auch tatsächlich der Fall ist. Und ich denke, man muss hier einfach zur Kenntnis nehmen, dass die Anforderungen, um in dieses Amt zu kommen, äußerst groß sind. Man braucht die Unterstützung von 80 % der Stimmen der Mitgliedsstaaten– und das ist eine sehr große Hürde. Deshalb gestaltet sich die Entscheidung nicht ganz einfach. Aber wie gesagt, ich denke, im Dezember sind wir da einen Schritt weiter.

Lindner: Rolf, jetzt möchte ich dich aber doch trotzdem noch mal ganz kurz zu dem Thema Stigma ansprechen. Du hattest gesagt, es ist gut, dass es die Feuerwehr gibt. Aber wenn bestimmte Mitgliedstaaten Angst haben, dass die Feuerwehr kommt oder wenn es bestimmte Kreise in der Bevölkerung gibt, die sagen: Oje, die Feuerwehr. Ist das nicht ein Problem für euch?

Strauch: Ich glaube, das ist ein Problem, das von Krisenmechanismen wie dem ESM. Der IWF hat ein ähnliches Problem. Man muss hier sicherlich unterscheiden zwischen auf der einen Seite „politischem Stigma“ und auf der anderen Seite „Marktstigma“. Wie schon gesagt: am Finanzmarkt gehen die Leute wirklich von diesem Vertrauensfaktor aus und bringen uns dieses Vertrauen entgegen. Aber natürlich müssen wir auch mit der politischen Realität umgehen. Wenn wir auf den Fall von Griechenland schauen: die letzte Auslandsreise von Klaus Regling [als Managing Director des ESM] ging nach Griechenland. Dort hat man ihm einen Orden verliehen, und zwar einen Orden, der den Freunden Griechenlands zugesprochen wird. Er bekam den Orden für die Verdienste, die er für das Land getan hat, oder für die Art, wie er dem Land gegenübergetreten ist. Und ich denke, es zeigt auch, wie Umdenkprozesse sich im Laufe der Zeit gestalten können. Das wäre nicht passiert, wenn man nicht in Griechenland erkannt hätte, dass – trotz aller Schwierigkeiten, welche dieses Anpassungsprogramm mit sich gebracht hat – es natürlich auch eine Notwendigkeit gab, das durchzuführen. Letztlich hat es auch dazu geführt, dass der Beitrag des ESM als einen Beitrag zur Entwicklung von Griechenland gesehen wird. Und so denke ich auch, dass sich das Bild des ESM im Laufe der Zeit verändern wird. Wenn der ESM, für die Probleme, die sich zum jeweiligen Zeitpunkt bieten, Lösungen bereitstellt, was wir versuchen, dann glaube ich, kann sich auch unser Image ändern.

Nguyen: Jetzt haben wir sehr viel zurückgeschaut. Ich habe sehr viel den Ausdruck „vor zehn Jahren“ benutzt. Wenn wir jetzt zum Abschluss noch mal kurz in die Zukunft schauen, wie schaut Ihr denn auf die kommenden Monate? Wird die EU es schaffen, diese Krise wirtschaftlich abzufangen? Und wovon hängt das ab? Was ist jetzt wichtig?

Lindner: Aus meiner Sicht ist die Energiefrage eine ganz zentrale Frage und die Koordination der verschiedenen Fiskalpolitiken zur Unterstützung sowohl der Haushalte als auch der Unternehmen. Eine zentrale Frage ist: schaffen wir da eine europäische Lösung und eine europäische Antwort zu geben? Ich denke, der Begriff der Zeitenwende, der bisher auch von der deutschen Regierung sehr stark auf die Sicherheitspolitik gemünzt war, sollte in der Form auch noch als europäische Zeitenwende stattfinden, sprich mit einem stärkeren Fokus auf die Frage: wie kann man gemeinsame Lösungen für die Energie-Sicherheit erzielen? Wir haben bisher Energiefragen sehr national betrachtet und es ist wichtig, diesen Politikbereich zu europäisieren, auch gerade vor dem Hintergrund, dass die Unterstützungsleistungen, die jetzt fließen, die Gefahr beinhalten, dass wir Geld von der ganz wichtigen Orientierung auf grüne und nicht fossile Energiequellen abziehen. Das ist nur gemeinsam zu schaffen und koordiniert zu schaffen – das würde ich mir wünschen, weil es auch eine Perspektive geben würde, für die Zeit des – vielleicht noch nicht nächsten Winters – aber auf jeden Fall des übernächsten Winters.

Strauch: Ich stimme dem voll zu. Um es aus meiner Perspektive noch mal klarzumachen: wenn wir international mit unseren Counterparts reden und mit Finanzmarktteilnehmern reden, kommt immer mehr die Frage auf: wie wollt Ihr in Europa das machen? Ihr habt jetzt viel Geld ausgegeben, um die Leute zu unterstützen. Wie geht das weiter? Ich glaube auch, wir brauchen diese Koordinierung. Wir brauchen den klaren Ausblick, wie Geld- und Fiskalpolitik sowohl auf Euroraum-Ebene als auch auf europäischer Ebene gemeinsam verfolgt werden können und in die gemeinsame Richtung zeigen. Dafür braucht es eine Menge Koordination. Das wird sicherlich eine zentrale Herausforderung sein.

Nguyen: Super, vielen Dank an Euch beide. Bevor wir aber zum kompletten Abschluss dieser Folge kommen, habe ich wie immer noch die Kategorie „drei Fragen mit einem Wort“ für Euch. Ihr bekommt jetzt jeweils eine Frage, die Ihr bitte mit einem Wort beantwortet, soweit es geht. Rolf, die erste Frage geht an dich: Auf einer Skala von 1 bis 10…1 ist „kurz vor dem Tod“ und 10 ist „sehr gut“…wie schlimm steht es um die europäische Wirtschaft?

Strauch: Aus meiner Sicht, wenn wir aktuell auf den Euroraum schauen, würde ich den Euroraum auf der Skala, die du genannt hast, bei einer 6 einordnen. Allerdings sollte man auch bedenken, das für mich der Extrempunkt war, die Situation in 2015 war [möglicher Grexit], wo der Euroraum kurz vor dem Auseinanderbrechen stand. Relativ zu dem Maß sind wir heute viel besser aufgestellt.

Nguyen: Johannes, die nächste Frage geht an dich: was ist die dringendste Reform, die benötigt wird, um die EU vollständig krisenfest zu machen?

Lindner: Ich glaube, man braucht einen klaren Plan zu Klima und Energiesicherheit.

Nguyen: Und dann die vierte Frage geht an Euch beide: wer ist der wichtigste Akteur, um Europa aus dieser Krise rauszuholen?

Strauch: Wie immer in Europa gibt es nicht einen Akteur. Das ist der Wille der Mitgliedsstaaten, eine gemeinsame Vision zu verwirklichen und den Fokus auf Problemlösungen zu behalten. Das ist, glaube ich, zentral.

Lindner: Aus meiner Sicht ist es, würde ich schon sagen, die EU-Kommission. Ich glaube, dass die Kommission eine ganz wichtige Rolle spielen muss. Und insofern würde ich einfach mal mein Gewicht hier hinter Ursula von der Leyen stellen.

Nguyen: Vielen Dank an Euch beide, Johannes und Rolf, dass Ihr heute bei mir wart. Das hat viel Spaß gemacht.

Lindner/Strauch: Danke dir.

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