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Wo steht Europa? Steigende Staatsverschuldung und ihre Folgen - Rede von Pierre Gramegna

Speeches
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Pierre Gramegna, ESM Geschäftsführender Direktor
Rede beim Deutschen Verein in Luxemburg
„Wo steht Europa? Steigende Staatsverschuldung und ihre Folgen
für Europa“
Luxemburg, 21.Januar 2025

 

Sehr geehrter Herr Werner,
sehr geehrte Damen und Herren,

Ich bin ein überzeugter Europäer. 

Eine enge Zusammenarbeit unter den EU-Ländern ist von enormer Bedeutung für ein starkes Europa. Dazu gehört auch die deutsch-luxemburgische Zusammenarbeit. 

Wir brauchen ein starkes Europa, um die vor uns liegenden Herausforderungen zu meistern – das steht außer Frage.

I: Einen Blick zurück werfen 

Zusammenhalt war der tragende Gedanke, der zur Gründung des Euro- Rettungschirms ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) vor mehr als zehn Jahren geführt hat. Einige von Ihnen mögen sich noch an die Euro-Krise erinnern, ebenso an die Unsicherheit, die damals herrschte. Damals ging es um die Frage, ob der Euroraum auseinanderbrechen würde. 

Als Antwort darauf wurde der erste temporäre Rettungsschirm, der EFSF, ins Leben gerufen, und bald darauf der zweite permanente, der ESM. 

Die Wogen von damals haben sich geglättet.1  

Die Länder, die damals Reformpläne und finanzielle Hilfe vom ESM erhielten – insgesamt sprechen wir hier von rund 300 Milliarden Euro – sind heute die Wachstumsmotoren des Euroraums. Andere Länder sind es zeitweilig nicht mehr. Das Blatt hat sich in vielerlei Hinsicht gewendet.

Darum geht es heute Abend: Wo steht Europa?

Mein besonderer Dank gilt Ihnen, Herr Werner, für die Einladung. Ich freue mich, in den kommenden 20 Minuten darüber zu sprechen, welche Risiken und Herausforderungen ich für Europa sehe. Ich werde dabei das Thema der Schuldenlage in Europa vertiefen. 

Staatsverschuldung und Konsequenzen für Europa

Schulden sind ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft, sowohl für Haushalte als auch für die Wirtschaft. Regierungen nutzen Schulden, um Probleme zu bewältigen und durch Investitionen Zukunft zu gestalten. Gleichzeitig verursachen Schulden aber auch Krisen und Stabilitätsrisiken– was für den ESM besonders wichtig ist.

Die COVID-19-Pandemie hat weltweit zu einem Anstieg der Schuldenquoten geführt. Das ist nicht verwunderlich. 

In Krisenzeiten steigen die Schulden oft an, da Regierungen (und Institutionen) zusätzliche Mittel benötigen, um wirtschaftliche und soziale Herausforderungen zu bewältigen.

Anschliessend ist es wichtig, die Schulden wieder abzubauen. 

Das hat insgesamt in Europa besser funktioniert als in anderen Regionen.

Wenn wir auf die vergangenen Jahre zurückschauen, sehen wir, dass Europa Resilienz bewiesen hat. Im globalen Vergleich ist Europa verantwortungsvoll mit Verschuldung umgegangen. 

Betrachetet man die Schuldenstände im Verhältnis zur Wirtschaftskraft, sind die Schulden in den USA von fast 110% vor der Pandemie auf rund 120% vergangenes Jahr angestiegen; in China von 60% auf 90%, das heißt um die Hälfte angestiegen. Unter den Industriestaaten hat Japan die höchste Schuldenlast. Hier sind die Schulden von fast 240% auf rund 250% gestiegen. 

Der internationale Währungsfonds (IWF) geht davon aus, dass in den kommenden Jahren, die globalen Schuldenstände im Durchschnitt weiter ansteigen werden.

Wie steht es um Europa?

In der Europäischen Union war der Schuldenstand vor der Pandemie fast 80%, ist dann sprunghaft auf rund 90% angestiegen und liegt aktuell bei 83%.2  Das bedeutet: trotz der Energie-Krise, ist die EU die einzige Region, die sich dem Vor-Krisen-Niveau nähert. 

Dies ist ein Effekt der wirtschaftlichen Erholung als auch der Inflation der vergangenen Jahre. 

Ohne den Willen der Mitgliedstaaten Hilfsmaßnahmen wieder zurückzuführen, wäre es aber nicht möglich gewesen Schulden zu managen und wirtschaftliche Stabilität zu gewährleisten. 

Doch obwohl Europa im Vergleich zu anderen großen Volkswirtschaften gut „gehaushaltet“ hat, ist lange nicht alles gut. 

Länder haben unterschiedliche fiskalische und politische Spielräume. Einige Länder – wie Frankreich, Italien und Spanien – sind nach wie vor hochverschuldet und haben dazu noch relativ hohe Defizite.

II: Europas Instrumente, um den Herausforderungen gerecht zu werden 

Die kommenden Jahre werden für Europa herausfordernd sein. 

Unterschiedliche fiskalische Ausgangspositionen führen dazu, dass nicht alle Länder gleichermaßen resilient sind und in die Zukunft investieren können. Gerade Länder mit hohen Schulden und Defiziten haben weniger Spielraum, um auf wirtschaftliche Krisen zu reagieren oder in wichtige Bereiche wie Bildung und Infrastruktur zu investieren. Andere Länder haben mehr fiskalischen Spielraum und können sich durch Investitionen, die ihre  Wettbewerbsfähigkeit stärken, besser auf die Zukunft vorbereiten.

Es ist gerade jetzt wichtig, Haushaltsreserven aufzubauen und Wachstumskräfte zu stimulieren. Unser starker finanzpolitischer Rahmen und der ESM als Sicherheitsnetz sind ein starkes Fundament. 

Ich begrüsse, dass Europa sich auf einen reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt geeinigt hat, der diese Aspekte berücksichtigt. Die EU-Fiskalregeln spielen eine entscheidende Rolle bei der Sicherstellung solider öffentlicher Finanzen innerhalb der Europäischen Union. Der Fiskalrahmen sollte jetzt umgesetzt werden; er setzt einen stärkeren Fokus auf den Investitionen und gewährt den Ländern mehr Zeit. 

Wesentlich ist auch, dass der ESM vorbereitet ist. Das Mandat des ESM ist die Finanzstabilität im Euroraum zu gewährleisten. Der ESM hat sich im Gefüge der europäischen Institutionen fest etabliert. 

Der ESM ist für die Zukunft gewappnet: er hat eine finanzielle Schlagkraft  von 500 Milliarden Euro.3 Derzeit haben wir 427 Milliarden Euro, die wir verleihen können. Das ist eine „Versicherungspolice“ für den Euroraum, die sich sehen lassen kann. 

Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir flexibel bleiben und sicherstellen, dass unsere Finanzhilfsinstrumente für verschiedene Arten von Krisen geeignet sind. Das haben wir während der Pandemie bewiesen und bemühen uns auch jetzt darum. 

Die Mitgliedstaten haben eine eine Änderung  des ESM-Vertrags eingeleitet , die uns eine neue Rolle in der Krisenbekämpfung, vor allem für den Bankensektor, zuschreibt. Diese sollte jetzt umgesetzt werden. 

Wir haben unsere veschiedenen Hilfsinstrumente auf den Prüfstand gestellt und müssen jetzt schauen wie unsere präventiven Hilfsinstrumente eine größere Rolle spielen können, um die zukünftige Widerstandsfähigkeit des Euroraums angesichts der langfristigen Herausforderungen Europas zu stärken. Wir arbeiten derzeit an konkreten Vorschlägen, wie dies praktisch umgesetzt werden kann.

III. Europa’s langfristige Herausforderungen

Beim ESM haben wir drei Megatrends identifiziert, die das zukünftige Wachstum Europas, die Schuldentragfähigkeit und damit auch unsere Finanzstabilität langfristig bestimmen werden:

1.    Auswirkungen des Klimawandels
2.    Demographie und Implikationen einer alternden Gesellschaft
3.    Geopolitische Fragmentierung

Was kann der ESM tun? Was sind mögliche Lösungswege?

Klimawandel – der erste Megatrend – führt weltweit zum Anstieg von Naturkatastrophen. Wie zum Beispiel im Ahrtal im Sommer 2021. Auch Luxemburg war damals betroffen. Ich denke dabei auch an die jüngsten Überschwemmungen in Valencia und an die verheerenden Brände in Los Angeles.

Es gibt eine Lücke zwischen gesamtwirtschaftlichen und den versicherten Schäden. In Europa waren laut EIOPA4  lediglich ein Viertel der Schäden in den Jahren 1980-2021 versichert. Wenn Versicherungen fehlen, ist es meistens so, dass die Kosten für den Schaden auf den Staat abgewälzt werden. 

Daher hat der ESM vorgeschlagen mithilfe eines EU-weiten Versicherungstopfs für Klimakatastrophen diese Lücke zu schließen.5  

Um den Klimawandel zu bekämpfen, benötigen wir angemessene Regulierungen und Maßnahmen zur Minderung und Anpassung an Klimarisiken. Auch hier kann Europa helfen – vor allem durch die Spar- und Investitionsunion.6 

Der zweite Megatrend, die Überalterung der Gesellschaft, ist ein Trend, der jetzt mit unterschiedlicher Wucht alle Länder betrifft. In einigen Ländern – darunter Deutschland und Italien – schrumpft die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bereits. In anderen Ländern – wie Frankreich oder Spanien – wird sich dieser Trend erst in einem Jahrzehnt bemerkbar machen. 

Aber in allen Ländern, führt Alterung tendenziell zu weniger Wachstum durch geringere Nachfrage, weniger Arbeitskraft und Innovation und zu erhöhten Kosten für die öffentliche Hand. Alterung ist ein Kernfaktor für die zukünftige Schuldentragfähigkeit und es liegt an den Mitgliedstaaten, die notwendigen Reformen durchzuführen. Viel ist bereits geschehen, aber weitere Anpassungen in Rentensystemen werden notwendig sein.

Europa kann helfen. Die Idee einer Spar- und Investitionsunion zielt darauf ab, mehr Europäer an den Kapitalmarkt zu bringen. Sparer sollten eine bessere Rendite auf ihre Ersparnisse erzielen können, und Unternehmen sollten von besseren Finanzierungsbedingungen profitieren. Drei Dinge können den Staat entlasten:  privat finanzierte Rentensysteme, Unternehmensfinanzierung und Wachstum. Natürlich erfordern solche Schritte ein hohes Maß an Vorsicht – Verbraucherschutz, Regulierungen und angemessene finanzielle Bildung der Bevölkerung spielen eine wesentliche Rolle. Sowohl auf technischer Ebene als auch auf Ministerebene befürwortet der ESM stark die Arbeit an der Spar- und Investitionsunion und unterstützt sie.

Der dritte Megatrend, die geopolitische Fragmentierung, ist heute im Vordergrund und erfordert mehr Stärkung nach außen.

Europa ist zwar ein Friedensprojekt, aber die jüngsten Ereignisse haben uns gezeigt, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist. Wir müssen die Verteidigung und die Sicherheit Europas neu überdenken.  

Enrico Letta schlägt in seinem Bericht „Much More Than a Market“ vor, dass der ESM eine Kreditlinie einrichten könnte, um den Euro-Ländern bei der Finanzierung ihrer Verteidigungs- und Sicherheitsausgaben zu helfen.   

Was diesen Vorschlag anbelangt, [dass der ESM eine Kreditlinie für Verteidigungs- und Sicherheitsausgaben einrichten soll], so müsste unter den 20 Euro-Mitgliedstaaten Einvernehmen darüber bestehen, dass Verteidigungs- und Sicherheitsfragen Risiken für die Finanzstabilität mit sich bringen. Dann könnte der ESM helfen. 

IV: Unmittelbare Zukunft im geopolitischen Kontext

In der aktuellen Weltlage wird der Multilateralismus – besonders bei Handelsthemen – infrage gestellt; gerade von dem gestern neu ernannten US-Präsidenten Trump. 

Mit Blick auf die Handelsoffenheit wird schnell klar, dass die EU im Vergleich zu den USA und China der grösste Verlierer bei einem Handelskrieg wäre.7

In den kommenden Tagen und Wochen werden wir mehr Klarheit gewinnen, aber es ist anzunehmen, dass das europäische Wachstum unter dem neuen Kurs der US-Regierung leiden wird.

Unsere wirtschaftliche Größe auf der globalen Bühne liegt bereits eindeutig hinter den USA und China.8  Hinzukommt, dass die USA doppelt so stark gewachsen sind wie die EU in den letzten fünf Jahren.9 

Das bedeutet für Europa: Wir müssen unsere wirtschaftliche Absicherung und langfristige Wettbewerbsfähigkeit in einem fragmentierten globalen Wirtschaftssystem gewährleisten. Dafür müssen wir den EU-Binnenmarkt weiter stärken. Dies unterstreicht der Bericht von Enrico Letta ebenso.

Eine Studie des IWF zeigt, dass wir 7% des EU-Wachstums gewinnen würden, wenn wir die Handelsbarrieren innerhalb des EU-Binnenmarktes um 10% abbauen würden.10  Das ist meiner Meinung nach die richtige Antwort auf die Herausforderungen, die wir haben. Wir brauchen einen besser funktionierenden EU-Binnenmarkt, um notwendige Investitionen zu finanzieren. Ausserdem brauchen wir  ihn für die Energiesicherheit und um unsere Abhängigkeit von äußeren Handelsströmen zu verringern. 

Gleichzeitig ist die Produktivität in der EU, die für die Wettbewerbsfähigkeit eine Rolle spielt, ebenfalls geringer als in den USA.11  Mario Draghi hat es in seinem Bericht über die europäische Wettbewerbsfähigkeit klar unterstrichen. Schaut man auf einen längeren Zeitraum, bemerkt man: es ist ein Problem, dass nicht erst seit fünf, sondern seit 30 Jahren besteht.

Europa stärken

Es gibt weiterhin in Europa viel zu tun. Konzentrieren wir uns auf die Bereiche, die wir am besten beeinflussen können. 

Erstens stellen Haushaltsdisziplin und nationale Reformanstrengungen nachhaltige Schuldenniveaus sicher. Investitionen in Technologien und Innovationen schaffen neue Arbeitsplätze und verbessern unser langfristiges Wachstum.

Zweitens können europäische Initiativen das Wachstum fördern und nationale Bemühungen unterstützen, indem sie Mittel effizienter nutzen und einen größeren Binnenmarkt schaffen.

Drittens werden wir trotz dieser Anstrengungen weiterhin mit Konflikten und Risiken durch das globale Wirtschafts- und Finanzsystem oder mit politischen Konflikten rechnen müssen. 

Krisenresilienz bleibt deshalb wichtig, um unsere wirtschaftliche Stabilität gemeinsam zu sichern. Der ESM wird seinen Beitrag zur Krisenprävention leisten, besonders die vorsorglichen Kreditlinien des ESM können hier eine wichtige Rolle spielen.

Schlussfolgerung

Lassen Sie mich hier abschließen.

ich bin ein überzeugter Europäer. 

Für mich steht fest: will Europa die zukünftigen Herausforderungen meistern, braucht es mehr und ganz gewiss nicht weniger Europa!

Wer sich zu Europa bekennt, bekennt sich zu gemeinsamer Verantwortung. Diese gemeinsame Verantwortung benötigen wir ganz besonders mit Blick auf die aktuelle Weltlage, aber auch für die Bewältigung der steigenden Staatsverschuldung. Tragfähige Staatsfinanzen sind die Grundlage für eine nachhaltige und stabile wirtschaftliche Zukunft Europas. Wir müssen zusammenarbeiten für ein starkes Europa.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf eine angeregte Diskussion.

Vielen Dank.


1 Europäische Kommission (2024), Eurobarometer: „Heute, sind acht von zehn Befragten, die im Euroraum leben, der Meinung, dass der Euro eine gute Sache für die EU ist.“

Daten zu Schuldenständen vom internationalen Währungsfonds.

3 Maximale Darlehenskapazität.

4 Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung.

5 Europäischer Stabilitätsmechanismus (2024), Broadening the scope of risk sharing through a European backstop for natural catastrophes | European Stability Mechanism.

6 Zuvor Kapitalmarktunion genannt.

7 Internationaler Währungsfonds (2023), Handelsoffenheit (Waren und Dienstleistungen) in % BIP: 57.4% Euroraum (Handel unter Euro-Ländern ausgenommen); 34.3% China; 25.8% USA. 

8 Internationaler Währungsfonds (2024), BIP zu laufenden Preisen (Milliarden US Dollar). Eine Überschlagsrechnung zeigt, dass die EU 2.7 Mal, die USA 4 Mal, und China ca. 32 Mal in den letzten 30 Jahren wuchsen – wobei man den Aufholeffekt Chinas nicht ausser Acht lassen darf. 

9 Internationaler Währungsfonds (2024), reale BIP-Wachstumsrate, realisiert und projiziert, 2020-2024. Im Vergleich zu 2019, wuchs das BIP der EU bis zum Jahr 2024 um 6%, während das BIP der USA um 13% und damit mehr als doppelt so stark wie das der EU wuchs.

10 Internationaler Währungsfonds (2024): Geoeconomic Fragmentation: What’s at Stake for the EU; Europe: Turning the Recovery into Enduring Growth.

11 Eurostat (2024), Arbeitsproduktivität (pro Person), 1995-2024. EU liegt bei 130, USA liegt bei 160.

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